
Nebel, Feuchtigkeit und Kälte sind für Stoffel und Erni klimatische Gegebenheiten, die dazu führen, dass der eine oder andere mich in der Regel schon früh am Tag anruft und mich wissenlässt, ob man ihn oder sie zusammen im Dorf antreffen wird. Bei schönem und warmem Wetter endete es meist damit, dass man sich irgendwo in der freien Natur oder im Dorf verabredete. Bei Nässe und Kälte aber zogen sie vor, zu Hause zu bleiben. Dann bedeutete dies, wie schon öfters geschehen, dass wir uns zu dritt auf ein Telefonmeeting verabredeten. Seit Erni wieder zu Hause wohnte, war mir aufgefallen, dass sich der Zusammenhalt zwischen meinen beiden Freunden noch einmal um ein Vielfaches verfestigt hatte. Siamesischen Zwillingen gleich entwickelten sie sich gewissermassen zu Synchrondenkern, ohne dass damit angedeutet werden will, dass sie nicht auch unterschiedlicher Meinung sein konnten. Denn jeder repräsentierte gleichsam ein Unikat, gewissermassen ein individuell geschliffener Diamant, und so sehr sie sich gegenseitig suchten, so blieben sie doch zwei unverwechselbare Individualisten mit Launen, Tücken und Enden. Nur die Wahl ihrer thematischen Beschäftigungen verlief dabei meist synchron.
Ernis Rückkehr führte aber auch zu einer Intensivierung der Kameradschaft in unserem kleinen Kameradschaftskreis. Viel Menschlichkeit und Nähe prägten inhaltlich unseren gesteigerten Zusammenhalt. Das schien zumindest in Josef die Idee aufsteigen lassen, nun auch möglichst oft unsere Gesellschaft zu suchen. Josef, der sich mit seinen 75 Jahren schon lange aus dem politischen Alltag ausgeklinkt hatte, litt etwas an Vereinsamung, da sich seine Parteikollegen nach seinem Abgang aus dem Gemeindepräsidentenamt von ihm heimlich zu distanzieren begannen. Mit dem Rücktritt vom dorfhöchsten Amt verband Josef gleichzeitig auch die Übergabe des Amtes als Parteipräsident der Freiheitlich Liberalen. Diese Doppelamtsabgabe machte ihn daher als geladenen Propagandaträger für kommende politische Anliegen, Wahlen und Abstimmungen, zunehmend uninteressanter. «Die Meinung alter Männer ist nicht mehr so interessant und gefragt», pflegte er dieses von ihm innerlich als schmerzlich empfundene Manko zu kommentieren. Dieses Vakuum, so hoffte und wünschte sich Josef, könnte etwas ausgefüllt werden durch den engeren Kontakt mit uns Debattierfreudigen, zu denen ja auch Berni, der Protegé von Erni zählte.
Stoffel, der über einen ausgeprägten Riecher für versteckte Motivationen bei anderen Menschen zu verfügen schien, machte seinem Naturell gemäss keinen Hehl daraus, dass Josef für sein Empfinden zu bodenständig, zu vorsichtig, etwas zu fantasielos und unkreativ auftrat. Josef, aufgrund seiner dennoch ausgeprägten Sensibilität und des daraus erwachsenen Narzissmus, fürchtete Stoffels rauen Humor. Er konnte damit nur schlecht umgehen und entpuppte sich dabei als tapsig und verunsichert. Dies führte in der Praxis dazu, dass er nur bei besonderen Gelegenheiten an unseren Meetings teilnahm und sich öfters, sogar gegen seinen Willen, zierte und Pflichten und Abmachungen vorschob, um einen Vorwand zu haben, sich abzumelden. Wir spürten das, knüpften ihm deswegen aber keinen Strick. Im Gegenteil, wir waren froh darüber, dass er sich offensichtlich selber gut einzuschätzen verstand und offensichtlich merkte, wann er Schutz brauchte und bei welchen Gelegenheiten er gefahrlos mitzuhalten vermochte. Dennoch ermahnte der eine oder nächste von uns in regelmässigen Abständen den Stoffel, doch etwas feinfühliger mit dem Josef umzugehen. «Ihr meint, ich soll ihn im Schongang waschen,» pflegte er dabei zu sagen. «Ich werde es versuchen,» versicherte er dann mit grosser Regelmässigkeit, er wolle ja schliesslich nicht, dass der Mann sich verfärbe oder gar eingehe.
Zu unserem heute bevorstehenden Skype Meeting um 15 Uhr, zu dem Erni angekündigt hatte, dass er gerne über das Alter und dessen Vor- und Nachteile reden würde, hatte sich Josef ganz spontan entschuldigt und abgemeldet. Ich hingegen war gespannt und wartete freudig darauf, zu erfahren, was Erni zusammen mit seinem Beifahrer Stoffel bezüglich Alter ausheckte. Berni schien es ähnlich zu ergehen. In seiner knappen SMS an mich schrieb er: «Alter? Alter, da bin ich als Jungmann gerne mit von der Partie. Da kann ich hoffen, für meinen Berufsalltag als Priester noch tüchtig zu profitieren.»
«Ich soll euch von Marianne herzlich grüssen, » eröffnete uns Erni zu Beginn. Er wolle dabei aber auch nicht verheimlichen, dass er selbst auch schwer von uns enttäusch sei. «Ihr habt euch am Fest wie die Kinder benommen – schlechte Esser seid ihr.» Wir hätten zu zaghaft zugegriffen und einiges stehen lassen, das habe Marianne an der Zahl und der Güte unserer Komplimente über ihre Kochkünste zweifeln lassen und dazu geführt, dass er nun drei Tage in Folge scharfes Curry-Reis essen musste. «Verstehe,» antwortete ich belustig, «du hast nun einen sauren Magen und willst uns dafür verantwortlich machen.» «Hättest mir gerne eine Portion vorbeibringen dürfen,» warf Stoffel ein, er liebe dieses scharfe Zeug. Hildi, seine Frau, verstehe sich leider nicht so gut auf die indische Küche. Er hätte ihm damit also einen grossen Gefallen getan. «Richte deiner Tochter nochmals meinen besten Dank aus.» Wir seien wohl nicht die grossen Jungs mit den hungrigen Bäuchen, wie sie sich das vorgestellt haben mochte. «Oh, Marianne kann damit problemlos umgehen,» erklärte uns Erni, er sei es, der leide. Rick habe das richtig interpretiert. Sein wiederholt saurer Magen habe ihn veranlasst, über das Altern nachzudenken, was in der Folge dazu führte, dass Stoffel nun seinerseits sauer auf ihn sei. «Das verheisst für die angekündigte Diskussion gar nichts Gutes, wenn Stoffel hadert,» verlieh ich meiner berechtigten Befürchtung Ausdruck.
«Nix da, der Erni ist ein Schelm,» verteidigte sich Stoffel. Er sei überhaupt nicht sauer, auf nichts und niemanden. «Was für dich, den notorischen Nörgler, aussergewöhnlich ist,» hackte Berni nach. «Vorsicht, Ravenpriest, treib’s nicht zu weit, sonst nagle ich dich genüsslich ans Kreuz, was bei den Temperaturen und der Feuchtigkeit draussen, für dich bestimmt kein erbauliches Erlebnis wird – wohl eher eine Gottesschau der speziellen Art». «Da ist ja einer mächtig in Stimmung,» stellte ich fest. Ich glaube, der Erni sollte uns jetzt besser davon berichten, was ihn, das Alter betreffend, beschäftige. «Ihr habt ja so recht, der Umgang mit euch führt leider immer wieder viel zu schnell ins Chaos, was einer nachhaltigen Diskussion dann meist abträglich ist,» konstatierte Erni.
Aus unerwarteter Ecke mischte sich Josef nun auch noch zu Wort. Wir waren freudig überrascht. Stoffel hatte ihn zu dem Meeting nochmals mit Nachdruck eingeladen, dabei nicht locker gelassen und ihm zwischenzeitlich erneut Zugriff zum Meeting gewährt. Wir verliehen unserer Freude Ausdruck und begrüssten Josef höflich in der virtuellen Runde. Ja, hob er an. Er erinnere, dass man sich im Gemeinderat zu seiner Zeit schon öfters Gedanken ums Alter gemacht habe. Dabei sei es natürlich vornehmlich um Pflegekosten und Sozialausgaben aller Art gegangen, da man in der Gemeinde vor zehn Jahren schon, mit Vorbehalten natürlich, von Überalterung in der Gemeinde sprechen durfte und absehbar war, dass hier eine grosse soziale Herausforderung drohte.. «Und was hat eure gemeinderätliche Gedankenschmide damals an Lösungsansätzen gefunden,» fragte Berni interessiert. Ihm sei, wie jeder leicht verstehe, das Problem des Alters aus seiner täglichen Arbeit natürlich bestens vertraut. Immerhin seien es zu zweidritteln ältere Menschen, die den Service der Kirche vornehmlich in Anspruch nähmen. Und dabei gehe es meist um den Tod und das Sterben.
Josef freute sich, von einem Erfolg des Gemeinderates unter seiner Ägide berichte zu dürfen. Sie seien sich schnell einig geworden, dass es gut wäre, wenn es der Gemeinde gelänge, das eine oder andere mittelständische Unternehmen zusätzlich zu den bereits vorhandenen im Dorf anzusiedeln. Dank dem grossem Einsatz sei das tatsächlich auch gelungen. Dies hätte zum einen neue Arbeitsplätze geschaffen und in der Folge auch die Steuererträge verbessert, so dass man bei seinem Rücktritt mit einiger Genugtuung feststellen durfte, dass die Gemeinde die Kosten der Alterspflege für einige weitere Jahre vollumfänglich als gesichert beurteilen durfte. Das sei vor sechs Jahren noch so gewesen, wie es heute um die Finanzen bestellt sei, wisse er allerdings nicht. «Hast bei dieser Rettungstat wohl vor allem im Hinblick auf die eigenen Vorteile für deine Pensionierung gewirkt,» frotzelte Stoffel. «Du bist ungerecht und unverschämt,» konterte Josef. Er sei als Politiker nie korrupt gewesen und keiner könne ihm auch nur im Ansatz Vetterliwirtschaft vorwerfen. «Stimmt,» hielt Erni fest. «Das war nicht besonders feinfühlig von dir,» adressierte er sich missmutig an Stoffel. «Solltest dich bei Josef unbedingt dafür entschuldigen und ihm in den nächsten Tagen eine Flasche deines besten Weines vorbeibringen.» «Tut mir leid, Josef, mein Mundwerk ist wohl genauso lose wie meine künstlichen Zähne beim Essen. Ich werde daran wohl eines Tages noch elendiglich ersticken.» «Entschuldigung angenommen,» lachte Josef. «Und wenn du jetzt noch den Wein vorbeibringst, dann sei dir meine Absolution gewiss.» «Vertut euch da bloss nicht, ihr Banausen» mischte sich nun Berni noch scherzend ein, «entschuldigen sei gut, Absolutionen aber seien ausschliesslich sein Geschäft.»
«Jetzt lasst mir bitte endlich den Erni zu Wort kommen,» moderierte Stoffel die Unterhaltung weiter. Er sei fast sicher, dass das Altersthema dem Erni in ganz anderer Hinsicht unter den Nägeln brenne. Erni räusperte sich gewichtig und dankte. Ja er hätte eigentlich eher von den individuellen und psychischen Problemen des Alters sprechen wollen. Viele Menschen sprächen vom Alter wie von einer Krankheit. Und wo Krankheit mit im Boot sitze, da lauerten doch immer gleich auch viele Ärzte, die heilen wollten. Und hier müsse man abwägen, was schwerer wiege, das Altern selbst oder ein Heilmittel gegen das Alter. Er glaube, dass es für uns Menschen immer wichtiger werde, sich über das Altern und dessen Konsequenzen Gedanken zu machen, zumal zu viele sich divergierende Interessen damit verbunden seien.
Dies sei nicht zuletzt auch auf Grund der langjährigen Forschung notwendig geworden, einer Forschung, die sich seit gut einem Jahrzehnt intensiver auf der Jagd nach dem Altersgen befindet. Heutzutage spreche fast jeder von einem langen, sorgenfreien Leben, das uns Medizin und Technik ermöglichen würden. «Ja», pflichtete Berni bei, «Biologen sind ein sonderbares Volk. Es fehlt ihnen an jeglichem Vermögen zur Spiritualität. «Sie gehen von der simplen Vorstellung aus, es gelte bloss jenes ausgezeichnete Altersgen zu finden und sich damit in die Lage versetzt zu sehen, quasi einen Ausschalter zu entwickeln, mit dem man den Zerfallsprozess, wenn er das so nennen dürfe, stoppen kann.» «Womöglich träumen sie gar von einem Katalysatoreffekt, der es ihnen zusätzlich noch ermöglicht, diesen Prozess nicht nur zu stoppen sondern ganz umzukehren», gab Stoffel zu bedenken. «Nicht auszuhalten, wenn ich mir vorstelle, dass der Erni immer jünger wird, während ich allmählich in meinem eigenen Faltenmeer ertrinke,» monierte Stoffel. Heute habe er es wohl mit dem Ersticken und Ertrinken, stellte Josef fest, welcher der Diskussion offenkundig aufmerksam folgte.
«Immer jünger zu werden, bedeutet ja nicht zwingend, dass man dabei auch immer gesünder wird,» mischte ich mich ins Gespräch. Man sterbe dann wohl folgerichtig zuweilen bereits in jungen Jahren. «Aber klar,» zog ich Fazit, «auch ich sehe hier natürlich eine Korrelation zwischen Alter und Gesundheit». Dennoch müsse man da klar einen Unterschied anbringen. Eine Umkehr des Altersprozesses sei rein biologisch vorzustellen, sie bedeute nicht, dass damit auch die Zeit umgekehrt werde und künftig rückwärtslaufe. «Wie jetzt,» fragte Josef etwas verständnislos, dem diese philosophische Art des Denkens und Argumentierens offenkundig nicht so vertraut schien, aber auch ehrlich genug war, sich aus diesem Unvermögen den andern gegenüber keinen Hehl zu machen. Wenn man sich doch zurückentwickle, dann werde man in einen früheren Zustand seiner Selbst versetzt, dies sei doch ein vergangener Zustand und damit ein Rückschritt in die eigene Vergangenheit. Das aber sei, stolz auf seinen gelungenen Vergleich, offenkundig ein Anachronismus. Und er, Josef, wollte wissen, wie ich dazu käme, die Zeit in dieser Gleichung einfach mal auszuklammern.
Ich zollte dem Josef Achtung, gab ihm aber zu bedenken, dass der Mensch sich zwar in der Zeit bewege, eine Manipulation an der Biologie des Menschen bedeute aber keineswegs gleichzeitig auch eine Veränderung im Fluss der Zeit. «Wenn ein Mensch mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durchs All fliegt, dann wird er doch, je länger dieser Flug dauert, jünger,» versuchte Josef hartnäckig und verbissen seine Hypothese zu untermauern. Er sei sicher, ähnliches zumindest vor kurzem in einer Fernseh-Dokumentation über Reisen durchs Weltall gehört zu haben. Das habe seines Wissens, falls er das richtig in Erinnerung habe, mit den Erkenntnissen von Einstein zu Raum und Zeit zu tun. «Richtig,» kam mir Erni nun zu Hilfe, «das funktioniert aber nur unter den Bedingungen des sich in Lichtgeschwindigkeit Fortbewegens einwandfrei.» Ansonsten sei dieser Zeitgewinn vernachlässigbar gering. «Wenn der Molekularbiologe nun kommt, und deine Gene verändert, die den Alterungsprozess steuern, dann hat das nichts mit Fortbewegung zu tun. Du wirst dann bestenfalls nicht mehr älter, oder aber, wenn du Pech hast, dann wirst du von da an nur noch jünger und jünger, bewegst dich aber deswegen immer noch im gleichen Zeitstrang wie wir alle.» «Kapiert, ich ergebe mich» konstatierte Josef etwas hilflos.
Das erinnere ihn an den Film «The Golden Years», einer Geschichte von Stephen King, warf Berni aufgekratzt dazwischen, froh darüber, zu diesem Thema nun auch noch etwas Passendes beizusteuern. Ja, diesen Film kenne er auch, bestätigte Erni mit grosser Begeisterung. Auch er liebe diesen Film, der ihm eingies Kopfzerbrechen abgerungen habe. «Huh,» jubelte Stoffel, «Stephen King, ein Film von Stephen King, da müssen wir unbedingt bald einen gemeinsamen Filmabend organisieren.» Er kenne diesen Film noch nicht und wolle auch zu jenen zählen, welche dieses Werk kennen. Er offeriere das Popkorn und die Gerätschaften, um diesen Film abzuspielen. «Ich liebe Horrorgeschichten,» schloss er freudig. «Können wir bei Gelegenheit bestimmt einrichten,» meinte Berni. Er stelle dazu gerne den kleinen Kirchensaal zur Verfügung.
Dann sei es jetzt aber fraglich und wohl höchst ungünstig, an dieser Stelle weiter vom Alter zu sprechen, gab er uns zu bedenken. Bei der vorgelegten Übereinstimmung der Ideen zwischen Umbeugung des Alterungsprozesses und der Anlage des eben genannten Films bestehe dann schnell die Gefahr, dessen Inhalt zu spoilern und die Spannung zu nehmen. «Wie jetzt, spoilern, was heisst das,» fragte Josef neugierig. Es bedeute, den Inhalt des Films zu verraten und denen, die ihn noch nicht gesehen hätten, das Vergnügen und die Spannung zu verderben.
Erni meldete sich zurück und versicherte, dass diese Gefahr nicht bestehe, ihm sei es vielmehr ein echtes Anliegen, zusammen mit Altersgenossen über das Altern, Krankheiten und den Tod zu sprechen. Und dies sei gefahrlos möglich, ohne Anspielungen auf den Film. Er erlaube sich, uns das nun zu verdeutlichen.
Die Jugend sei die Zeit des aufblühenden Lebens, des Zunehmens der Kräfte, die Hochzeit der wohlgebildeten Körper und schönen Gesichter, der Stärkung des Willens und der Ausweitung des denkerischen Vermögens unseres Bewusstseins. «Schön gesprochen,» intervenierte Stoffel, aber er könne nur in einigen Punkten folgen und ihm zustimmen. Nicht alle seien nämlich schön und viele würden bei dem angesprochenen Entwicklungsprozess zuweilen eher dümmer und einfältiger, verlieren ihre Unschuld und mutierten zu Dumpfbacken. Wir möchten den zynischen Einwand Stoffels bitte geflissentlich überhört haben, fuhr Erni energisch fort. Statt dessen möchten wir bitte seinen eigenen Ausführungen weiter folgen. Habe man den Zenit des Erwachsenalters nämlich überschritten, dann finde alsbald ein Umkehrungsprozess statt. Er setzte seine unterbrochene Betrachtung fort. Man beginne äusserlich zu welken, verliere an Spannkraft, werde anfälliger für Krankheiten und fange an, mit Gevatter Tod zu liebäugeln und das eine oder andere Tänzchen zu wagen. Der Tango sei übrigens der bevorzugte Tanzschritt von Gevatter Tod. «Letzteres muss ja eine liebliche Romanze sein», warf Josef belustigt dazwischen, der sich zu jüngeren Jahren als begnadeter Tangotänzer einen Namen geschaffen hatte. Schliesslich habe er bei diesem Tanz damals seine künftige Frau kennengelernt und dabei wenig den Eindruck gehabt mit dem Tod über das Parkett zu wirbeln.
«Du willst uns also sagen, dass sich der Kreis bei der ewigen Frage nach dem Woher und dem Wohin in sich schliesst», nahm Berni den unterbrochenen Themenfaden wieder auf. «Genau so,» bekräftigte Erni. Es sei doch geradezu unheimlich und ungeheuerlich, dass wir Menschen ausgerechnet in den Belangen über fehlendes Wissen klagten, welche für uns wesentlich seien. Und daran könne alles Mauscheln und Schönreden nichts ändern. «Ach wisst ihr, der Tod wird überschätzt», plagiierte Stoffel. Irgendwie sei es doch tröstlich, Gewissheit zu haben, dass der körperliche Abbau, der oft auch von Schmerz begleitet sei, irgendwann sein Ende finde. Das gebe einem zumindest in der Phase des hohen Alters die notwendige innere Kraft, diesen Schlussakt noch einigermassen menschenwürdig zu meistern. Das sei für einige vielleicht zu wenig, wagte Josef zu antworten, dann wenigstens, wenn die Angst vor dem Unbekannten an die Stelle der inneren Kraft trete. Nicht jeder verfüge über hinreichend Mut, dieses Stelldichein zu meistern.
Hier trat Berni auf den Plan und bekräftigte: «Was uns Josef da eben zu bedenken gibt, trifft wirklich für nicht wenige Menschen zu.» Das sei doch seine Domäne, wandte ich mich an Bernie: «Was sagst du jenen angsterfüllten Menschen, kannst du ihnen beistehen?» «Beistehen ja, aber helfen, das glaube ich weniger», antwortete er mir. Der Glaube könne eine wirklich grosse Hilfe darstellen, aber er könne die Augen nicht davor verschliessen, dass die meisten Menschen davon abgefallen seien. Er vermute mal, dass es dem Menschen in unseren Tagen an Zeit und Musse fehle, dem Materialismus, den eigenen Rechenkünsten und der Gier nach Erfolg, Ansehen und Wohlstand wehrhaft entgegen zu treten. Aber gut, er gestehe es, die Verführungen des Daseins seien wohl stärker, weil näher und sinnlicher, als alle Verheissungen des Paradieses.
«Du kleiner Schelm», spöttelte nun Erni, «du willst uns also weismachen, dass es uns an der Kraft des Glaubens fehlt.» Dem sei wohl so, antwortete Berni. Dabei spreche er aber nicht zwingend vom christlichen Glauben.
Ich sah mich genötigt, nun selbst einige Gedanken zu Tod und Sterben beizutragen. Ich sei kein Spezialist, nicht so wie der Berni, und mein Problem sei vorrangig die Tatsache, dass man über den Tod immer nur aus Sicht des Lebens und von uns Lebenden sprechen könne. «Und das ist unfair und zumal auch etwas preziös,» eröffnete ich den anderen. «Unfair empfinde ich das, weil man dabei nicht über den Tod ganz allgemein spricht, nein, man ist sich unweigerlich bewusst, dass dabei immer vom eigenen Tod die Rede ist.» Man könne sich zwar durchaus auch auf ein allgemeines man hinausflunkern, wog ich ab, doch letztlich falle man immer wieder dahin zurück, von wo seinen Ausgangspunkt genommen habe – nämlich bei sich. «Und preziös ist solche Rede deswegen,» fuhr ich fort, «weil die Positionen gewissermassen naturgemäss ungleich gewichtet sind. Leben ist wertvoll, während der Tod jenes darstellt, was man vorzugsweise gleichwieder vergessen will, sobald auch nur ein winziger Anflug von Gedanke daran aufkommt.» Und an diesem Punkt sei ich dann bei Stoffels Ansicht, dass es nämlich nur dann annäherungsweise möglich werde, den Tod besser zu gewichten, wenn man ihn bei sich mit Krankheit, Schmerz und Siechtum gleichsetze. Das Leben müsse gleichsam wertlos werden, damit man mit dem Tod ein kommodes Auskommen finde und ihn als Befreier empfangen könne. Hingegen einen Tango mit Gevatter Tod zu tanzen, das sei so gar nicht mein Ding, schloss ich.
Da müsse er mir recht geben, ergriff Berni noch einmal das Wort. «Ich habe vielfach die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die alt und gebrechlich im Spital oder im Pflegeheim liegen und ohne Hoffnung auf Besserung sind, sich beinahe angstlos das Ende herbeiwünschen. Sie wünschen dann nur noch zu beichten und ihre Liebsten noch einmal zu sehen und zu umarmen,» dann wären sie bereit.
Dennoch, so Erni, man könne bei diesem Thema zwar gleichsam im wilden Hüpfverfahren die Perspektive wechseln; von sich sprechen, von andern sprechen oder gar objektivierend darauf eingehen. Es dünke ihn hierbei ein Umstand ungemein prägnant, der Tod erscheine bei all diesen Erzählungen immer als Pflänzchen, das im Frühling des Lebens ausgesät, im Herbst zur Frucht heranreift und irgendwann platzt. Diesem Platzen wohne zwar etwas Überraschendes, aber ganz und gar nichts Unerwartetes inne. Der Tod sei somit ein dem Leben innewohnendes Ereignis und Teil des Lebens selbst. «Ich weiss nicht, ob ihr mich da versteht, aber irgendwie möchte ich zu radebrechen, dass unser Ende aus einer gewissen Dynamik heraus an uns herantritt, so wie man über Jahre seinem Nachbarn im Treppenhaus begegnet, einige Worte wechselt, bis man eines Tages allein im Hausgang steht und dem sinnlichen Verhallen des Lebens folgt und in jenes Meer mündet, mit dem sich jedes Wasser des Lebens vereint. Oder eben, um noch einmal die Metapher des Tangos zu bemühen, im womöglich auch fröhlichen Alleingang über das Parkett in die Umkleideräume zu entschwinden.