
Ein fast schon als mild zu bezeichnender Februartag begleitete Stoffel, Erni und mich ins Tal der Sünden – einem lauschigen Ort, den wir in regelmässigen Abständen sowohl zur Erholung als auch zur Ertüchtigung unserer knorrigen Gebeine und verkrampften Muskeln aufsuchten. Dieser besondere Ort hatte es uns dreien wirklich angetan hatte. Nun, das Tal trug nicht wirklich diesen geheimnisschwangeren Namen, Tal der Sünden, aber uns gefiel diese verschworene Formel. Der annehmlich begehbare Weg hindurch führte entlang eines geschwätzigen Baches, in dem im Sommer und Herbst zuweilen sogar kleinere Fische zu beobachten waren, die sich beim geringsten Aufflackern eines Schattenspiel pfeilschnell in der dicht bewachsenen Uferböschung versteckten. Fichtenwald, Buchen und reiches Haselgesträuch begleiten den Wanderer hinauf auf den Kamm, wo sich dem erschöpften Ankömmling plötzlich und jäh der Blick hinunter ins Aaretal auftut und eine dreifach verwurzelte, 800 hundert Jahre alte Linde mit mächtigem Wurzelwerk zum Ausruhen lädt. Sie ist ein bei Einheimischen äusserst beliebter Ausflugsort.
«Das Wandern ist des Müllers Lust», plärrte Stoffel mit brüchiger Stimme ins nachmittägliche Rund. Im Talgrund, wo die Sonne es noch nicht über die Baumwipfel schaffte, dampfte unser Atem. Und auf dem umliegenden Feuchtfeld glänzte siegreich der Eisschorf zum Zeichen, dass die Sonne diesen unteren Teil des Tales noch nicht zu erreichen vermochte. Wir legten einen Gang zu, denn weiter oben, da wo das Tal sich zu öffnen begann, sollte uns herrlichster Sonnenschein erwarteten. «Mensch Stoffel, lass das Krächzen,» erschreckst uns ja noch das Wild in den umliegenden Wäldern, bat ich meinen singenden Begleiter. «Ich möchte dich zwar nicht aus deiner Fröhlichkeit reissen, aber schliesslich kommen wir ja zur Erholung hierhin. Und als gäbe mir Mutter Natur umgehend recht, querte windig schnell ein scheues Reh einige Meter voraus den steinigen Weg und setzte mit einem eleganten Sprung über den Bach. Wir blieben leicht erschreckt für einen Augenblick stehen. «Das arme Tier,» kommentierte Erni ironisierend, «das leidet sicher am Klimaschock.» «Ach Freund, jetzt tickst du aber mächtig verkehrt rum,» warf Stoffel ein, dem nun die angeschlagene schnellere Gangart eher das Singen austrieb als mein Einwand dagegen. «Der Klimaschock hat hier im Sündental rein gar nichts zu suchen. Ja der findet das Tal erst gar nicht,» argumentierte er. «Du musst es ja wissen», entgegnete ich Stoffel. «Bist ja unser Klimaexperte.»
Erni lachte bei dieser Bemerkung. Das erinnere ihn an die gemeinsame Schiffsreise vom norwegischen Bergen hinauf ans Nordkap, die sie vor einigen Jahren im November im Gedenken an seine leider viel zu früh verstorbene Frau unternommen hätten. Stoffel war derart angetan von den dortigen klimatischen Verhältnissen, dass er anlässlich einer Zwischenlandung auf den Lofoten umgehend auszusteigen und zurückzufahren gedachte, da er sich bis tief auf die Knochen von der Eiseskälte angegriffen fühlte und Angst bekundete, als Tiefkühllanguste in der Pfanne des Schiffkochs zu enden. Nur die Durchsage kurz vor der Landung in Sortland hätte in letztlich dazu angespornt, sich erneut Mut zuzusprechen und der nahen Zukunft etwas ausgeglichener entgegen zu sehen. Man versprach den Passagieren, die planten, dem Städtchen einen kurzen Besuch abzustatten, nach ihrer zeitigen Rückkehr aufs Postschiff ein zauberhaftes Schauspiel am Himmel für die bevorstehende Nachtfahrt. Schliesslich, so Erni, sei es ja das lebendige Sichten der Aura Borealis gewesen, was sie gemeinsam zu der Schiffsreise bewogen hatte.
«Auh ja,» begeisterte sich Stoffel, «die kennen da kein Klima in Norwegen hinter dem sechsundsechzigsten Breitengrad. Sie nennen es treffend Natur und Kälte ist für diese abgehärteten Menschen lediglich der Ersatz für das Fehlen eines Kühlschranks». Bei so viel märchenhaftem Elfentanz am Polarhimmel seien natürlich auch allfällig gefürchtete, bis auf die Zähne bewaffnete Wikinger ausgeblieben. «Die hatten es nämlich dem Angsthasen Erni angetan,» wandte sich Stoffel, breit über beide Backen grinsend, an mich. «Erni hat mir auf Deck im Kampf gegen eine sich anbahnende leichte Seekrankheit unermüdlich Geschichten erzählt, wie die Wikinger in den früheren Tagen der Menschheit schonungslos andere Schiffe kaperten und die Mannschaften schonungslos niederschlachteten. Er beschrieb mir das turbulent und wortmalerisch, wohl auch, um mich zu beunruhigen. Dabei sah er regelmässig über die Reling hinunter auf die Nordsee, in furchtsamer Erwartung eines kurz bevorstehenden Angriffs». «Kindsköpfe, was gibt es dazu sonst noch zu sagen,» wehrte ich spöttisch ab. Vor Kälte steife Glieder zu verspüren, das sei eine Frage der passenden Kleidung und habe mit Klimawandel nichts zu schaffen, frotzelte ich.
«Dann bist du also jetzt unser Klimaexperte», entgegnete mir Stoffel schroff. «Wenn du schon alles weisst, dann beglücke uns mal mit deiner diesbezüglichen Expertise. Lass hören.» Es täte mir leid, versuchte ich mich um das unbeabsichtigte Klimamandat zu drücken. Ich könne es schlecht mit tanzenden Elfen, schwimmenden Polarhimmeln, brüllenden Eisbären und blutrünstigen Piraten aufnehmen. «Ihr wisst es doch selber, Klima ist langweilig und eher etwas für streikende Schulkinder. Lasst uns lieber hier einen Blick über die Mauer hinunter zum kleinen Wasserfall werfen.» Bei so viel Anmut und Wagemut des sich gefasst über die Felskante hinunterstürzenden Wassers könne man unmöglich daran zweifeln, dass die Natur durchaus noch bei guter Gesundheit sei. Im Sommer hielten wir uns oft und gerne am Fuss des Wasserfalls auf, da er Kühlung versprach und Erni meist zu einem erfrischenden Fussbad verführte. «Ok,» willigte Stoffel ein, «vielleicht markiert uns Erni den starken Mann und taucht seine Füsse da rein.» «Hättest du wohl gerne, du Esel,» lachte Erni. Dann kehrte er sich mir zu: «Wir schätzen ja die Poesie deiner Naturbetrachtung», erklärte er mir, «ein Goethe bist du deswegen aber noch lange nicht,» und mit Klima habe auch das wenig zu schaffen.
Beim Klima handle es sich um eine riesige Konstellation, die man notgedrungen durch die Längen- und Breitengrade der Zeit überblicken müsse, um darin einen Anflug von Wandel festzustellen. Jede Perspektive, die nicht wenigstens 200 Jahre abdecke, den ganzen Globus erfasse und genaue Datenlage berücksichtige, schiesse ins Leere. «Teufel nochmal,» meinte Stoffel erstaunt, «sag bloss, du verstehst etwas davon. Klima entspricht in meinem Verständnis nämlich nur dem, was die nette Wettertante im Anschluss an die Tagesaktualitäten so übertrieben euphorisch daher plappert – heute Sonnenschein, morgen Regen, etwas wolkig, in Tälern neblig und zwischendurch ein Unwetter, abgerundet von einer täglichen Quizfrage aus dem Bereich der Meteorologie.» Um zu wissen, welches Wetter wir hätten, reiche ihm der Blick zum Fenster hinaus. Dazu benötige er keine Wetterprognose aus dem Fernseher. Da habe er wohl noch nie etwas von CO2 gehört, entgegnete ihm Erni. Zuviel davon sei für das Weltklima nämlich schädlich. «Ja, ist gut,» brummelte Stoffel, «stellt euch vor, davon habe ich auch schon gehört. Wenn ihr mich fragt, es lohnt sich nicht, daran seine Zeit und seine Energie zu verschwenden.» «Du bist mutig,» antwortete ihm Erni. «Lass das bloss niemand Aussenstehenden erfahren. Die sind nämlich alle überzeugt, dass wir sofort handeln müssen, wenn wir der Erde und dem regen Leben darauf noch einige Jährchen Gnadenbrot gewähren wollen.»
Der Klimawandel könne ihm aber ehrlich gestohlen bleiben, posaunte Stoffel mit viel Nachdruck. Solange bestimmte, besonders habgierige und skrupellose Menschen für weitere Jahrzehnte sich anmassten, Menschen aus der Dritten Welt, in Afrika, in Südamerika oder Teilen von Asien schamlos auszubeuten und deren Ressourcen zu klauen, solange sehe er keinen Handlungsbedarf für das Klima. Zuerst bescheisse man diese Menschen um deren Öl, Gas, deren Gold, Edelsteine und Metalle und gleichzeitig entzweie man diese Volksgruppen künstlich untereinander, um ihnen nachher für gutes Geld Waffen zuliefern und sie mit den blutigen Folgen davon in noch tiefere Armut zu stürzen. Am Ende bleibe ihnen nichts Anderes mehr übrigbleibe, als ihre Heimaterde an diese sie ausbeutenden Konzerne für ein Taschengeld abzutreten.
«Hast ja recht», unterstützte ihn Erni. Enden tue es damit, dass wir hier in Europa, der Glückskette und anderen Hilfswerke grosszügig Geld spenden, um die Lebensbedingungen dieser Menschen um ein Weniges zu erleichtern. «Eigentlich müsste man die Umwelt-Räuber dazu verpflichten hier Teile des Gewinns zurückzugeben,» stellte er fest. Wenn er es recht bedenke, dann sei das Zeitalter des Imperialismus noch längst nicht vorbei. Er bereue, solches jemals seinen Schülern beigebracht zu haben.
«Richtig,» pflichtete ich meinerseits nur dem Erni bei, «heute verschenken die heuchlerischen Eliten ihre Judasküsse an die politischen Vertreter auf der ganzen Welt. Schleimen sich bei ihnen ein und belehren sie darüber, was sie vorzugsweise tun sollten, um dem Globalismus Platz zu machen. Einem Globalismus notabene, in dem Grosskonzerne und Bankenimperien das Zepter führen. Aber wisst ihr was,» schloss ich meinen kurzen Exkurs in die Welt der grossen Politik, «wir sollten uns eiligst wieder schöneren Themen widmen.» Wenn man zu tief und zulange im Morast der Falschheit und des Bösen herumstapfe, hole man sich nur schlechte Laune und bestenfalls eine Grippe. Der Ausblick in dieses Tal biete so viel Abwechslung, Erlebnis und Freude, dass alles andere daneben verblasse.
Erni bleib plötzlich stehen und zog sein Handy aus der Jackentasche. Jetzt da der Rick uns an die Sonnenseiten des Daseins erinnere, sei ihm plötzlich in den Sinn gekommen, Marianne anzufragen, ob sie für die Zubereitung des Abendessens noch Zutaten brauche. «Schau an der Strolch,» wandte ich mich an Stoffel. «Ist ein kleiner Betrüger unser Erni.» Da gehe man im Einvernehmen zusammen auf Wanderschaft, um einige vorige Pfunde des Corona Specks auf dem holprigen Weg liegen zu lassen und der Kerl denke an nichts anderes als das bevorstehende Abendessen. «Nun, wenn ich ehrlich bin,» gestand mir Stoffel, «geht es mir ganz ähnlich. Quatschen und Wandern macht eben durstig und hungrig.»
«Meine Herren,» stiess ich gespielt verzweifelnd aus, «jetzt wünsche ich mir aber ein gehöriges Blackout her,» eines, das sich gewaschen habe. «Was meint ihr, was auf eurem Tisch stehen wird, wenn jetzt gleich die Lichter ausgehen und Gas und Strom auf unbestimmte Zeit versiegen. Wartet es nur ab, wenn sie uns, wie angekündigt, die Atomkraftwerke einstampfen, kann das schneller eintreten als uns lieb ist.» «Spielverderber,» warfen mir beide synchron entgegen. «Predigt Honig und verfüttert uns hinterher an den Bären,» ergänzte Erni. «Der Rick hat keine Ahnung, wovon er da redet», wandte sich Stoffel an den Erni. An einem Bläckout, so Stoffel in gut schweizerdeutschem Englisch, seien doch die vielen furzenden Kühe unserer Bauernschaft schuld und nicht die fehlenden Kraftwerke. Ich musste widerwillig Lachen und auch Erni wäre vor lauter Ausgelassenheit beinahe ausgerutscht und hingefallen.
«Wir müssen nur möglichst viele Windmühlen aufstellen, dann kann uns gar nichts geschehen,» nahm Erni den Gesprächsfaden wieder auf. «Die helfen übrigens auch bei zuviel Methan in der Luft,» meinte er mit einem Augenzwinkern, «verblasen im Nu die uns störenden Geschmäcker.» Windmühlen seien keine gute Idee, argumentierte Stoffel darin kämen unzählige Vögel zu Tode. «Geraten in den Propeller und werden zu Gulasch verschnetzelt,» das sei nicht zu verantworten. «Ist ein übler Akt der Ernüchterung,» trug ich zu dem Thema bei. Wann immer man sich den sogenannt wichtigen Dingen menschlichen Tuns zuwende, und Energiegewinnung stehe gewiss ganz oben auf der Liste solchen Tuns, dann werde es unappetitlich und hässlich. «Wo er recht hat, steht er richtig,» hielt Stoffel Fazit. Etwas erschöpft und einsilbig geworden traten wir nun den Heimweg an. Alle drei wohl im Wissen darum, dass man weder den Menschen noch die Erde von heute auf morgen zu retten vermöge. Der Ausflug endete damit, dass Erni ein Geschäft aufsuchte, um das eine oder andere zu kaufen, was ihm Marianne aufgetragen hatte und wir spürten, das grösste Geschenk das uns Menschen gemacht werden könne, seien gute Freunde und starke Familienbande.
