Stoffel schrammt in vorweih-nachtlichem Moll den Gender-Blues in 2 Strophen des Leids

In der Erinnerung an seinen Rausch verschwamm alles in blauem Nebel und er tapste unsicher wie Jesus übers Wasser und suchte dabei doch nur seinen Weg nach Hause.

Stoffel schien sich in der Adventszeit unbehaglich zu fühlen, was daran zu ermessen war, dass er mich und Erni täglich ein bis zweimal anrief. Meist ging es dabei um Kleinigkeiten, die es kaum wert waren, mit uns oder irgendwem besprochen zu werden. Erni hatte ihn deswegen schon mal daran erinnert, dass er doch auch noch eine Frau hätte. Warum er nicht vermehrt sie bei Alltagsproblemen zu Rate ziehe. «Das klingt ja ganz so, als ob dir meine Anrufe unangenehm wären», hatte Stoffel ihm darauf beleidigt vorgeworfen. Hildi sei selten zugegen und ihrerseits stark engagiert und verstrickt in diversen zeitfressenden Missionen mit ihren Freundinnen. Jetzt um die Weihnachtszeit herum bringe sie sich verstärkt im Frauenverein ein, in der Religionsgruppe, dem Flohmarktkomitee, dem Kirchenchor, der Armenküche und anderen ihm weniger vertrauten Organisationen. Sie sei eine wichtige Leistungsträgerin, wie man ihm von verschiedener Seite her bedeutet hätte. Selbst Berni lobe die Hilfsbereitschaft der Hildi in den höchsten Tönen. Diese Aktivitäten absorbierten sie so stark, dass sie kaum mehr zuhause anzutreffen sei, geschweige dann ein offenes Ohr für seine Anliegen hätte.

«Nun gut, Freund, dann sei dir verziehen und ich entschuldige mich für meine Ungeduld. Wo drückt denn der Schuh,» fragte Erni neugierig. Der Jonas, Franzens Sohn, werde doch diese Weihnacht genau ein Jahr alt und er wisse beim besten Willen nicht, was er dem süßen Fratz schenken dürfe. Seine Eltern, Franz und die Sylvia, seien diesbezüglich sehr wählerisch, um nicht zu behaupten, äußerst eigen. Die wären partout in der Lage, ihm selbst das kostspieligste Geschenk zurückzugeben, falls es ihren Kriterien nicht standhielte.

Manchmal zweifle er an seiner Aufgeschlossenheit und bewährten Weltsicht, deren er sich rühme. Franz und Sylvia legten größten Wert auf zeitgemäße Geschenke. Geschenke hätten gemäß ihrer Einschätzung einen immensen Einfluss auf die Erziehung und das Gedeihen der Kinder. Als Hildi dem Jonas kürzlich einen hellblauen Strampelanzug geschenkt habe, hätte sich Sylvia lauthals darüber empört und das Geschenk kompromisslos zurückgewiesen, mit der Erklärung, dass sie nicht bereit sei, ihren Sohn gleichsam zu gendern – «was für ein Wort», kolportierte er (und er wisse noch nicht einmal, was das komische Wort bedeute).

 Erni und ich mussten trotz gebotener Zurückhaltung etwas belustigt schmunzeln. Wir waren uns der Wichtigkeit der geschilderten Situation durchaus bewusst und achteten darum sehr darauf, Stoffel unter keinen Umständen zu verletzen. «Ist auch nicht besonders wichtig, dieses Wort zu verstehen», wendete ich mich erklärend an Stoffel. Das bezeichne solches, was typischerweise dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sei. Sprachlich handle es sich bei der Genderei um eine vollkommen irre und verkomplizierte Rechtschreibung, wenn man sich beispielsweise an beide Geschlechter adressieren wolle – man spreche bei männlichen und weichlichen Schülern dann beispielsweise von Schüler*innen. Träten solche Gender-Konstrukte gehäuft in Texten auf, dann verschaffe das diesen Schreiben einen nicht zu übersehende und zu überhörende Schwerfälligkeit. «Das Beste ist, so praktiziere ich das, man ignoriert diese Zungenbrecher und macht bei dieser bestimmt nur temporär in Anwendung stehenden Folie gar nicht mit». Erni bestätigte mir, dass genau dies auch seiner Meinung und Vorgehensweise entspreche.

Zu Stoffel gewandt gab er ihm zu verstehen, dass Franz und Sylvia nicht die einzigen jungen Leute seien, die sich diesem abartigen Modetrend verschrieben hätten. Manche modernen Eltern täten eben alles, um nicht als rückständig zu gelten. «Weg mit der Tradition!» sagen sie, «die Zeit vergeht und mit ihr verändert sich der Mensch.» Da sei es verpönt, einem Jungen einen Traktor zu schenken oder einem Mädchen ein Kosmetikset. Damit, so werde behauptet, vermittle man den Jungen und Mädchen einprägsame Rollenbilder, die längst nicht mehr en vogue seien. «Das ist doch Schwachsinn,» platzte Stoffel ungehalten dazwischen. «Das seht ihr doch auch so,» fragte er uns mit bitterem Unterton in der Stimme. Auf diese Weise würde es ihm verunmöglicht, seinen Enkelkindern Geschenke zu machen und Freude zu bereiten. «Was für ein Dilemma!» Zudem seien Geschenke etwas Persönliches, worin er sich nur ungern zensieren lasse, bekräftigte er mit stolzer Gebärde. Es sei seiner Meinung nach schädlich und unverantwortlich, Kinder unüberlegt jeder Form von flüchtigem Zeitgeist auszusetzen. Man stelle damit Moral und Sitte ins Abseits und implementiere billige Zensur in die lebendige Beziehung zwsichen Großeltern und ihren Enkelkindern.

Es sei zudem beleidigend, wenn Söhne und Töchter sich auf diese Weise ihren Eltern gegenüber wichtigmachten und sich als Lehrpersonen aufspielten. Die Genderei sei etwas für Schwachmaten und diene nur dazu, die Menschen durcheinanderzubringen und ihnen die Orientierung zu rauben. «Als ob wir nicht schon Sorgen genug hätten», schloss Stoffel seiner Bluesstrophe erstes Leid.

*

«Ich verstehe deine Verärgerung,» pflichtete ich Stoffel bei. Aber man sei halt klugerweise doch dazu angehalten, die Einstellungen und Gefühle anderer zu respektieren – auch dann, wenn einem dies als Großeltern den eigenen Kindern gegenüber etwas schwerfalle. Das sei man seinen Mitmenschen, besonders aber seinen nächsten schuldig. «Wie stellt sich denn Hildi dazu,» fragte ich Stoffel vorsichtig. «Ach, sie versteht mich zwar auch,» jammerte Stoffel, «aber sie würde es nie wagen, ihre Gefühle offen zu zeigen oder zu artikulieren, um ja nicht einen Keil zwischen sich und ihren Sohn zu treiben.» Sie habe einmal den Verdacht geäußert, dass Franz sich von seiner Frau bevormunden lasse und dass er nicht die Kraft aufbrächte, seine eigene Meinung zu äußern und gar für sie einzustehen. Sylvia sei in der Beziehung der beiden wohl tonangebend. «Vermutlich geht Hildi davon aus, dass Sylvia damit auch die eigentlich treibende Genderkraft ist», interpretierte Stoffel die Haltung seiner Frau. Sie wüssten ja beide, dass ihre Schwiegertochter aus einer links-grünen, politisch aktiven Familie stamme.

«Schwierig,» kommentierte Erni. Dennoch verstehe er nicht, warum die jungen Leute maschinenmäßig alles so ultimativ überkorrekt abhandeln müssten. Man könne über solche Probleme doch auch neutral und vernünftig argumentieren. Er habe ja nicht grundsätzlich Entscheidendes gegen neue Ideen und Einsichten. Irgendwie neige die heutige Jugend aber leider zu maßlosem Übertreiben. Das muss wohl auch am Zeitgeist liegen. «Bring das mal meinem Sohnemann bei,» klagte Stoffel beinahe schon verzweifelt. Damit hob er an zu seines Bluessongs zweiter Strophe Leid.

*

Manchmal, so hob Stoffel den Tonfall, um die Bedeutung der nachfolgenden Gedanken quasi mit Vorschussbedeutung auszustatten, zweifle er daran, dass er mit diesen Problemen in seinem Alter noch wesensgerecht umzugehen verstehe. «Je älter ich werde, desto schwerer fällt mir der Zugang zu neuen Vorstellungen», gestand er. Schließlich sei er doch auch deswegen so alt geworden, weil es ihm stets erfolgreich gelungen sei, Widersprüchliches in eine für ihn gangbare Formel zu gießen, was ihm erlaubt habe, sich den Turbulenzen des Lebens erfolgreich entgegen zu stellen. Vermutlich sei es zum Besten von allen, wenn er klamm und heimlich einen baldigen Ausweg aus dem Leben fände.

«Jetzt ist aber gut, du elende Heulsuse, noch ein Wort und ich erzähle alles deiner Hildi», erzürnte sich Erni. «Hab ich da eben Heulsuse gehört», warf ich entrüstet dazwischen. Das sei jetzt unterste Genderschublade. «Jetzt fang du auch noch an», kläffte Erni zurück: «noch ein Wort und ich beiß dir einen Schranz in den Hosenstoß.» «Ausweg aus dem Leben», nahm ich das Stoffel Zitat wieder auf: «Das brauchst du doch nicht, bist noch rüstig genug und kannst es über deine Resilienz locker mit uns beiden aufnehmen», ermunterte ich ihn. «Du bist doch kein Feigling», das habe mit Feigheit nicht das Geringste zu tun. Er sei für die längste Zeit Opa gewesen, wenn es ihm nicht gelinge, ein genderneutrales Geschenk für seinen kleinen Enkel zu finden.

 «Ich hätte da eine Idee,» mischte sich Erni mit erneuter Vehemenz ins Gespräch: «Du bist doch ein talentierter Bastler. Warum baust du deinem Enkel nicht ein Mobile?» «Mobile?» Er verstehe nur Bahnhof, wiederholte Stoffel. «Ist doch sonnenklar», ereiferte sich Erni. Du bastelst ein Mobile für sein Bettchen und hängst daran lauter bunte und glänzende Gegenstände wie Mond, Sterne, Bäumchen, Weihnachtskugeln und anderes mehr. Dir fällt da bestimmt was Gutes und Passendes ein. Sowas könne die Sylvia bestimmt nicht ablehnen. Du hängst halt einfach aus beiden Gender-Welten Gegenstände daran.

«Was für eine harmonische, gleichgewichtete, freischwebende und ach so tolle Idee,» attestierte ich Erni anerkennend. Stoffel wägte ab, überlegte hin und her und klopfte schließlich auf den Tisch, dass es im Kopfhörer mächtig krachte und rauschte. «Das könnte hinhauen. Ja das klappt bestimmt,» wiederholte er. «Danke Erni, du hast aus mir eben den glücklichsten Großvater der Nation gemacht.» «Na dann halte dich mal ran und überleg dir gut, was du ans Mobile hängst», erinnerte ihn Erni, froh darüber, dass es ihm gelungen war, seinen Freund vor dem Gang in den sieben Kreis der Hölle und die ewige Verdammnis zu retten.

*

Da die ärgste Stoffelnot gelindert schien, wandte ich mich nun an Erni, und wollte von ihm wissen, wie denn die Ereignisse nach dem letzten Seniorentreff sich entwickelt hätten. Ob er, wie befürchtet, angefeindet worden sei? Nichts von alledem sei bis anhin eingetroffen. Das habe er wohl dem guten Berni zu verdanken, der mit seinem beherzten Einsatz die Wogen der Empörung zu glätten verstanden habe. «Ich bin mir sicher», wandte sich Erni an Stoffel, «der Umstand deines kolossalen Absturzes in die Besinnungslosigkeit des Rausches dürfte dem Ganzen noch zusätzlich eine leichtere Note verliehen haben.» Sogar dem Kurt seien lustig anmutende Gerüchte zu Ohren gekommen und dabei habe die Beschreibung des Rausches ein zentrales Inhaltselement gespielt. «Siehst du», frohlockte Stoffel, «wer trinkt erreicht mehr im Leben». «Vor allem eine Migräne im Abspann», ergänzte ich. Stoffel winkte ab.

Erni übernahm erneut das Wort und berichtete, dass es gestern Nachmittag gegen drei Uhr an seiner Haustür geklingelt habe. Marianne habe die Tür geöffnet. Kurz darauf sei sie in Begleitung von jemandem die Treppe hinaufgestiegen. „Ihr erratet jetzt nicht, wer es war“, frohlockte Erni. «Nein, erzähl schon, spann uns nicht auf die Folter», ereiferte sich Stoffel. «Die Königin des Seniorentreffs höchstpersönlich, Sabine», platzte Erni triumphierend heraus. Sie sei mit selbstgebackenen Muffins angetanzt, worauf Marianne die Frau an seiner statt zum Platz nehmen aufforderte und sich bereit erklärte, Kaffee zu brühen. Im Sitzen ließen sich die bestimmt köstlichen Muffins besser genießen. Sabine sei dann ganze zwei Stunden sitzen geblieben und habe es sich gemütlich gemacht.

Wie ihren Erklärungen zu entnehmen war, hätte sie die hitzigen Wortgefechte am Treffen sehr genossen. Es habe ihr auch Eindruck gemacht, dass er, Erni, sich für sie eingesetzt hatte. Woher sie denn seinen Namen und seine Adresse kenne? Das sei keine besondere Herausforderung gewesen. Auch sie sei schließlich mit Berni bekannt. Sie spielten zusammen seit mehreren Jahren in der Theatertruppe. Von ihm habe sie erfahren, wo er aufzufinden sei. «Schönes Haus, übrigens», hätte sie wohlwollend hinzugefügt, worauf Marianne gelacht habe. «Ei sag bloss, Erni, die Frau ist deinem Charme erlegen», spottete Stoffel. Er könne sich übrigens nicht an sie erinnern. «Wen wundert’s», hackte Erni ein, «du bist doch tapsig wie ein Honigbär durch den Nebel deines Rausches getorkelt. Hätte man dich nicht nach Hause begleitet, würdest du wohl jetzt noch halb verfroren auf der Treppe vor dem Kirchenzentrum hocken und überlegen, in welche Richtung du wohl gehen solltest.»

Wann er denn gedenke, uns seine neue Freundin vorzustellen, fragte ich Erni interessiert. «Schneller als mir lieb ist,» meinte Erni etwas verlegen. Marianne habe für ein Treffen zwischen Weihnacht und Neujahr gesorgt, wozu sie uns alle noch einladen werde.

Veröffentlicht von Proteus on fire

Freischaffender Feuilletonist

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