Stoffel und Erni auf dem Glatteis von Angst und Moral

Sie würden argumentieren, einiges an der alten Welt sei es wert, gerettet zu werden, vieles aber könne man getrost dem reissenden Strudel der Spirale hinunter in die Leere überlassen. Eschatologisch, so Berni, sei er aber überzeugt davon dass das Reich Gottes kommen werde.

In für meine Begriffe ungewohnter Frühe klingelte heute das Handy Alarm. Wer mochte das sein? Erni? Ihm und Stoffel sei da gestern etwas Dummes widerfahren, berichtete mir Erni in aufgeregtem Tonfall. «Ja auch ich freue mich, von dir zu hören,» begrüßte ich ihn spöttisch. «Entschuldige, es tut mir leid. Ich bin grad nicht bei bester Laune.» Er missbillige es wirklich zutiefst, wenn er mich in aller Frühe auf dem falschen Bein erwischt haben sollte, er wisse ja um meine neueste Gewohnheit, bis in den späten Morgen hinein genüsslich zu schlafen. Er brauche in dieser ihn quälenden, überaus persönlichen Angelegenheit dringend meinen Rat. «Wie kommt‘s,» fragte ich mit Erstaunen. «Wie erkläre ich es mir, dass euch beiden Synchronschwimmer, Stoffel und du, etwas widerfahren ist, was ihr nicht selber auf die Reihe bekommt. Aber erzähle mal der Reihe nach, bin gespannt, welche Dinge da meiner harren,» forderte ich ihn auf, offen und ungeniert mit mir zu sprechen. Ich merkte natürlich, dass er ausnahmsweise mal nicht zu Späßen aufgelegt schien, weshalb ich mir alle weiteren bissigen Bemerkungen untersagte.

Das Elend, zumindest seines, habe damit angefangen, dass Stoffel ihn dazu überredete, am allmonatlich stattfindenden Seniorentreff im Kirchenzentrum teilzunehmen. Schirmherr dieser Veranstaltung sei übrigens unser gemeinsamer Freund Berni. «Gab es ein spannendes Referat, eine Kabarettaufführung, ein weihnächtliches Singen oder sonst was Ausgefallenes, das Stoffel bewogen hat, dich mit sich zu schleppen,» fragte ich etwas amüsiert. «Ja mach dich bloss lustig, ich verdiene es nicht besser,» jammerte Erni. Nein, das Referat sei unspektakulär gewesen – von der langweilenden Sorte. Thema bildeten Beratungsgrundsätze und -tipps der Vermögensverwaltung im Alter. Er sei nur deshalb mitgegangen, weil ihm bewusst war, dass einige seiner Bekannten und Beinahe-Freunde regelmässig daran teilnahmen und er sich darauf freute, den einen oder anderen von ihnen wieder einmal persönlich zu treffen. In diesen ratlos machenden Zeiten von Virenattacken, wo keiner mehr im Überblick hatte, welche Massnahmen gerade gälten, gelänge so selten die Organisation von Anlässen, wo man die Gelegenheit zu einem geselligen Treffen bekam.

«Kann ich dir bestens nachempfinden,» antwortete ich: «Was mich dabei beschäftigt ist die Frage, ob denn da keine Zertifikatspflicht galt. Ich muss dich wohl nicht daran erinnern, dass ihr beide nicht geimpft seid. Wurde diesem Umstand keine Rechnung getragen? Wurde beim Einlass nicht kontrolliert?» «Tickst du noch richtig,» gab Erni ungehalten und verärgert zur Antwort, «glaubst du, ich sei ein Schweizer Qualitätsuhrwerk, das man zertifizieren muss, um glaubwürdig zu erscheinen.» Ich lachte und pflichtete ihm bei, dass dies auf ihn wohl kaum zutreffe, froh darüber, dass er seinen Humor noch nicht ganz verloren hatte. Aber, so pflichtete er mir bei, ich hätte recht – im Nachhinein sei ihm bewusstgeworden, dass da wohl stillschweigend das Innehaben eines Zertifikats vorausgesetzt wurde. Nur hätte dies beim Eintritt keiner kontrolliert. «Ist schon klar», gab ich zu verstehen, «es wird wohl als selbstverständlich angesehen, dass wir alten Käuze allesamt geimpft sind.» «Möchte sein,» pflichtete Erni mir bei. «Doch erzähl nun, was ist euch widerfahren,» forderte ich ihn ungeduldig auf.

Stoffel und er seien im Kirchensaal an verschiedenen Tischen gesessen. Das hätten sie im Voraus miteinander abgesprochen. Jeder von ihnen beabsichtigte mit jenen Leuten am Tisch zu sitzen, welche sie eine längere Zeit nicht mehr gesehen hätten. Zudem sei es manchmal klug, getrennt aufzutreten. Sie seien ja schliesslich keine Siamesischen Zwillinge. Doch weiter: Nach dem todlangweiligen Referat sei es dann laut und lebendig im Saal geworden. An einigen Tischen hätte man gelacht und geschwatzt, an anderen seien die Jass Karten ausgepackt und verteilt worden und wieder andere forderten nach Musik, um zu tanzen. «Du kennst das sicher.» «Nein, ich habe bis dato noch nie an einem Seniorentreff teilgenommen», gestand ich. Ich müsse das vielleicht auch mal miterleben, empfahl mir Erni. Da lerne man zuweilen durchaus interessante Menschen kennen. Doch dies sei nur eine Bemerkung am Rande. Er selbst finde diese Treffs für gewöhnlich recht amüsant. Diesmal sei das Ganze aber irgendwie aus dem Ruder gelaufen.

Um sich gegebenenfalls Peinlichkeiten und unnötige Langeweile zu ersparen, habe er sich gezielt einen Tisch ausgesucht, an dem Menschen sassen, die er nicht kannte. Ihm gegenüber am Tisch sei Stefan gesessen, ein zugezogener Lehrer, den er aber nie kennengelernt hatte, da sie verschiedene Altersstufen von Schülern an verschiedenen Schulhäusern unterrichtet hatten. Stefan begann sodann begeistert von seinem Herbsturlaub auf Mallorca zu schwärmen: vom Wetter, dem Meer und den langen Spaziergängen auf der Insel, dem Essen und den Weinen. Sabine, eine recht flotte Frau noch jüngeren Datums, wohl eben erst pensioniert worden, erlaubte sich bei dieser Gelegenheit gegenüber Stefan eine durchaus spaßig vorgetragene Frage: «Dann zählst du wohl auch zu jenen, die sich einzig deswegen impfen lassen, um auch weiterhin Reisen zu machen.»

Wo sie denn hindenke, hätte sich Stefan empört. «So wie man in der kalten Jahreszeit eben Winterreifen auf das Fahrzeug montiert, so lässt man sich doch vernünftigerweise auch impfen. Das geschieht doch nach derselben Logik,» argumentierte er. «Der Vergleich hinkt», hätte Sabine ihm darauf pfeilgeschwind geantwortet. Die Winter hier im Mittelland seien recht milde. Selten schneie es, und wenn, dann schmelze der Schnee innerhalb weniger Stunden oder Tage zum Bedauern der Kinder gleich wieder weg. Unter solchen Umständen lohnte sich der kostspielige Kauf von Winterreifen kaum – wenigstens für sie nicht. Und mit Corona sei das doch fast dasselbe. Sie kenne kaum Menschen, die mehr als einen leichten Schnupfen und etwas Fieber davongetragen hätten. Das entspreche doch nicht den Regeln einer Pandemie. «Wieso sich also impfen – und das erst noch zwei oder gar dreimal,» hätte sie herausfordernd gefragt.

Stefan stand nach diesen umständlichen Ausführungen der Ärger offenkundig ins Gesicht geschrieben. Er könne nicht glauben, wie unvernünftig und unreif sie, eine gestandene Frau, daherrede. «Mein Nachbar, 91 Jahre alt, ist einsam und jämmerlich im Spital auf der Intensivstation verstorben,» berichtete er. Er wisse aber auch von anderen Fällen aus dem Bekanntenkreis und Menschen aus Nachbardörfern, die schwer am Sars Virus erkrankten. Und überhaupt, ob sie denn die Nachrichten zur Pandemielage nicht verfolgen würde. Seit Monaten werde das Land, ja die ganze Welt, von dieser schrecklichen Krankheit gebeutelt und eine Mutante nach der andern bringe immer neue Bedrohungen. Diese Dinge, Entwicklungen und Tatsachen vermöge man doch nicht bei gesundem Menschenverstand zu ignorieren.

Erni seufzte leicht vor sich hin und meinte, «da machte ich einen schweren Fehler.» Er hätte sich nämlich dazu hinreissen lassen, der Frau etwas wohlverdiente Schützenhilfe zu leisten. Man könne sich das, so hätte er argumentiert, vernünftigerweise nicht antun, Tag für Tag diese ewig gleichen Hiobsbotschaften abzuhören, man sei doch kein Masochist. Das grenze doch an reine Angstpropaganda, was die Medien uns da zumuteten. Und als Lösung werde uns ohnehin malträtierten Menschen immer nur die Impfung im Doppelpack, mit und ohne Bratwurst oder Fondue angepriesen. «Gut gesprochen,» pflichtete mir Sabine über das ganze Gesicht grinsend bei. Das empfinde sie genauso.

Daraufhin sei Stefan so richtig rot im Gesicht angelaufen und hätte geäussert, dass man mit Menschen wie mir und der Sabine doch überhaupt nicht vernünftig diskutieren könne. Wir seien Verblendete und zweifellos Impfgegner. Sie sei keine Impfgegnerin, hätte ihm Sabine umgehend geantwortet. Aber sie sei eben skeptisch und entscheide vorzugsweise selber, ob und wann sie sich impfen lasse. Dazu bräuchte sie keinen Rat. Wieso er sich bloss so nutzlos ärgere. Sie hätte von ihm ja nur wissen wollen, ob er sich wegen des Reisens impfen liess. Das sei doch eine durchaus harmlose und gleichwohl verständliche Frage. Zwischenzeitlich sei man, so berichtete Erni weiter, an den Nebentischen aufmerksam auf uns geworden. Einzelne erhoben sich und traten neugierig zu uns an den Tisch.

«Hallo Arnold, du bist doch Arzt, kannst du den beiden Ignoranten hier am Tisch bitte erklären, warum sie völlig falsch liegen,» hätte sich Stefan darauf an einen leicht vorne über gebeugt neben ihm stehenden Mann, der sich schwer auf seinen Gehstock stützte, gewandt. Arnold, der nebst der Gehbehinderung überdies schwerhörig zu sein schien, fragte ungeniert und laut: «Hä, was redest du da von Elefanten?» «Ignoranten, nicht Elefanten», schrie Stefan nun gereizt. «Ach so,» antworte der Angesprochene. Deswegen brauche er, Stefan sich nicht so streng aufzuregen, das schade dem Herzen. Stefan, der nun einsehen musste, dass Arnold ihm gewisslich keine grosse Hilfe sein würde, schaute sich suchend weiter um.

An dieser Stelle unterbrach ich Erni, weil ich mich so köstlich ob seiner Schilderung amüsierte, dass ich mein Lachen nicht länger zurückzuhalten vermochte. «Jetzt bedaure ich, diesen Anlass verpasst zu haben,» klagte ich ihm. «Scheint ja lebhaft zu und her gegangen zu sein». «Viel zu lebhaft – auch für seinen Geschmack,» bestätigte mir Erni.

Da sich offenbar niemand finden liess, der Stefan argumentativ hätte unterstützen mögen, wandte dieser sich mit Häme im Blick, aber plump, nun selber wieder seiner Tischgenossin Sabine zu: «Du willst dich also nicht impfen lassen. Nun gut. Wenn du dich anstecken solltest, dann wünsche ich dir wenigstens einen milden Verlauf der Krankheit.» Das sei doch lieb von ihm, hätte Sabine geantwortet. Und richtig, das sei ja zurzeit sogar Tagesgespräch Nummer 1: Doppeltgeimpfte, weil sie sich sicher fühlten, infizierten sich nun vermehrt mit der Krankheit. «Richtig», pflichtete ihr ein grossgewachsener, ausgemergelter Mann bei, «zum einen lässt der Impfschutz mit den Monaten nach, zum andern sagt man, dass es noch zu viele Ungeimpfte gibt, welche eine Gefahr für die Gesundheit der Geimpften darstellen.» «Hört, hört, so ist es,» pflichtete ihm einer bei, der sich neu zu den Umstehenden gestellt hatte. «Was nützt eine Impfung, wenn man trotzdem erkrankt,» wehrte sich Sabine in unerschütterlichem Tonfall. «Wenn man an Kopfschmerzen leidet, dann wirft man sich doch eine Pille ein, die den Schmerz lindern und nicht noch verstärken soll», pflichtete ich der Frau bei. Oder aber, so Sabine, man treffe Vorkehrungen, erst gar keine Kopfschmerzen zu bekommen. Der Ausgemergelte konnte es sich daraufhin nicht verkneifen, uns, mich und Sabine, zwei Menschengefährder zu schimpfen.

Nun seien so richtig dunkle Wolken in der Person eines Herrn im Saal aufgezogen, der offensichtlich zum Organisationskomitee des Seniorentreffs zählte. Er hätte löblicherweise versucht, die streitenden Parteien zu beruhigen. Wir seien diesen Nachmittag doch mit dem Ziel zusammengekommen, gemeinsam einige gesellige Stunden bei Spaß, Speis und Trank zu verbringen. Wenn sie aber partout der Apartheid, der Spalterei zu frönen gedächten, bitte er die Streithähne höflich, den Saal zu verlassen und die Zwistigkeiten vor der Tür auszutragen, oder noch besser, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen und getrennte Wege zu gehen.

Sie hätte mit ihrem Tischnachbarn keinen Zwist provoziert, bekräftigte Sabine. Sie hätte sich lediglich gegen Allgemeinplätze, Moralpredigten und Angstmache zu wehren gesucht. Sie sei zu Gunsten des Friedens aber gerne bereit, die unheilige Sache beizulegen, auf sich beruhen zu lassen und zu vergessen. Der Intervenient des OKs zeigte sich ob des Einsehens der Frau erfreut und gab der Hoffnung Ausdruck, das man nunmehr wieder zur Geselligkeit zurückfinde.

Erni berichtete weiter, sei guter Hoffnung gewesen, dass das unliebsame Intermezzo ein Ende gefunden hätte. Doch da hätte er die Rechnung wohl ohne den Wirt gemacht. Denn jetzt sei Stoffel quer durch den Saal zu ihm gekommen und hätte dabei fast noch den am Stock gehenden Arnold angerempelt. Stoffel sei gekommen, weil er das Gefühl gehabt hätte, er müsse seinem Freund beistehen. Er sei Richter, Freund und Helfer in ein und derselben Person, soll Stoffel parliert haben und hätte sich mit diesen gesalbten Worten nun auch am Tisch aufgestellt. Man habe dem guten Stoffel angesehen, dass er an diesem Anlass wenig mit Wein gegeizt hätte und offenkundig bereits ein Glas zu viel erwischt hatte. Denn entsprechend prächtig in Form schien er sich zu fühlen. Es existiere, so Stoffel auftrumpfend, seines Wissens in der basisdemokratisch geführten Schweiz keine Impfpflicht: «Weshalb sich deswegen also die Köpfe einzuschlagen». «Tun wir ja gar nicht», verteidigte sich Stefan. «Tun wir wirklich nicht», hätte auch ich mich an Stoffel gewandt, in der Hoffnung, dass er sich der brenzligen Situation bewusstwürde, wenn er die Stimme seines Freundes vernehmen würde, die sich aus dem Alkoholdunst herauskristallisieren sollte. Doch weit gefehlt, berichtete mir Erni am Telefon weiter.

«Ich bin ein Ungeimpfter, du,» und damit wandte sich Stoffel an Stefan, «scheinst geimpft zu sein, doppelt oder gar dreifach». Dabei lachte er, in der Meinung, einen Witz geäußert zu haben. Bei dem Wort ungeimpft sei es im Saal leise geworden. Menschen seien von ihren Tischen aufgestanden und hätten neugierig zu Stoffel hinübergeschaut und auch mit Fingern herübergedeutet. Dass die Situation nicht eskalierte, so Erni, sei wohl einzig dem geistesgegenwärtigen Einschreiten Bernis zu verdanken, der als Schirmherr des Treffens galt und glücklicherweise just in diesem Moment zum Anlass gestoßen sei. Er begriff wohl blitzschnell, was hier ablief und darum beruhigend auf Stoffel eingewirkt und mich gebeten hätte, ihm zu helfen, den Mann aus dem Saal und nach Hause zu begleiten. Sabine hätte sich ihnen unbekümmert angeschlossen und ebenfalls den Saal verlassen, begleitet von ängstlichen Blicken und unverhohlenem Kopfschütteln.

Wie er hinterher vernommen habe, hätten einige Seniorinnen und Senioren empört dem OK gegenüber ihren Unwillen bekundet. Sie verständen nicht, dass man es sträflich unterlassen habe, die Teilnehmenden des Treffens beim Eintritt auf ihre Zertifikate hin zu prüfen. Unvorstellbar, dass man sie solange zusammen mit ungeimpften Personen in einem Raum verbringen liess. Einige von ihnen äusserten dabei jedoch ihre Zufriedenheit darüber, dass sie die ganze Zeit die Maske getragen hätten und sie sich also keine Sorgen über eine allfällige Ansteckung machen müssten. Masken tragen und Abstand hätten sie geschützt. Sie hofften bloss, dass die zwei Herren und die eine Dame keine Superspreader seien. Aber wer könne das schon wissen. Das werde sich erst in den nächsten Tagen klären: «Dann Gnade Gott dem asozialen Trio».

«Und wie kann ich dir nun weiterhelfen», fragte ich Erni. «Hast du schon,» antwortete dieser mit einem langen Seufzer, «indem du mir deine Zeit geschenkt und mir zugehört hast». Jetzt wisse jeder im Dorf, dass Stoffel und ich Impfskeptiker seien. Er fürchte, dass ihnen daraus Nachteile entstehen könnten. Es sei ihm unwohl bei der Vorstellung, das die Seniorinnen und Senioren künftig auf der Strasse mit Fingern auf ihn zeigen würden. «Au weja, Erni,» lachte ich in den Hörer. «Hab gar nicht gewusst, dass du so ängstlich bist,» trizte ich ihn. Du hast gut lachen, du bist in diesem Dorf wenig bekannt. Stoffel und ich hingegen gehören gleichsam zu dessen Urgestein. Komme dazu, dass Marianne und die Kinder bei ihm wohnten. Er hoffe bloss, dass dies für seine Lieben keine Konsequenzen nach sich ziehen werde.

Ich versuchte Erni im Brustton der Überzeugung zu versichern, dass die Allgemeinheit diesen Vorfall bald vergessen haben werde. In wenigen Tagen erinnere sich bestimmt kein Mensch mehr. Um ehrlich zu sein, glaubte ich dabei selber nicht daran, was ich als Trost geäussert hatte.

*

Nach dem Gespräch mit Erni, der sich halbwegs wieder beruhigt hatte, griff ich erneut nach dem Telefon und versuchte Berni zu erreichen. «Hei Rick, du rufst sicher wegen den Vorkommnissen mit Stoffel und Erni an», begrüsste er mich. «Ja klar», pflichtete ich bei. Es sei für mich schon sehr erstaunlich, wie streitbar und uneins die Menschen in dieser turbulenten Zeit geworden seien. Es beunruhige mich, zu spüren, wie wenig es brauche, um Lunten zu entzünden und Menschen zu entzweien, die vordem durch Anstand und Sitte geeint waren. «Ach weisst du, Misstrauen, Missgunst, Nörgeleien und Nachstellungen haben auch vorher schon an der Tagesordnung im menschlichen Haushalt gestanden. Dazu bedurfte es nicht erst der Potentaten des Tiefen Staates. Neu an der Situation ist eigentlich nur die Angst: Angst zu sterben, Angst vor Armut und Angst vor der Einsamkeit,» führte mir Berni aus.

Jetzt hatte mich Berni mit seinen Statements aber echt überrascht. Ich hatte ihn schon lange als sehr belesenen, klugen und standhaften Menschen eingeschätzt, war mir aber im Unklaren, wie weit seine Einsichten ins Weltgeschehen tatsächlich reichten. «Rick? Bist du noch in der Leitung», weckte mich seine rufende Stimme aus meinen Gedanken. «Ja! Entschuldige, ich war grad abgelenkt. Um ehrlich zu sein, freut es mich, zu erkennen, dass du ein aufgeweckter und einsichtiger Mensch zu sein scheinst, der diesem Pandemiegefasel ebenso wenig abgewinnen kann, wie ich.» «Überschätz das mal nicht», warnte er. Er sei zwar durchaus kein verängstigter kleiner Dackel. Auch sei seine Spürnase dazu viel zu sensibel. Doch bei allem Gestank mitsamt den feinen Zwischengerüchen, die er wahrnehme, gelte sein erstes Interesse immer seinen Mitmenschen, mit denen er tagtäglich in Kontakt stehe. «Ich bin kein Revoluzzer, falls du das gehofft hast», lachte er. Auch ich zählte mich nicht zu den Aufständischen. Mir sei es zwar wichtig, zu verstehen, was hier hinter dem Vorhang der Seuche gespielt werde, und was allfällige Zwischenschritte und Ziele sein könnten. Dies aber zu verhindern, dazu seien wir zwei wohl definitiv zu schwach.

«Glaubst du daran, dass das Reich Gottes kommen wird,» fragte ich ihn, den Versuch wagend, ihn aus seinen Reserven hervorzulocken. «Eschatologisch gesehen sicher» antwortete er mir unumwunden. Das zu glauben, dazu fühle er sich berufen. Seiner Meinung nach befinde man sich aber noch weit entfernt von der verheissenen Endzeit. Im historischen Sinne sei er hingegen überzeugt, dass die Menschheit, erzwungen durch die verbrecherischen Massnahmen einiger Globalisten, sich in einer Abwärtsspirale befinde. Diesen Vorgang zu stoppen erfordere den Gemeinsinn und alle Kraft der Menschen, sich selber, der Zwischenmenschlichkeit und der gesellschaftlichen Zusammengehörigkeit neue Ideale zu schaffen. «Wenn die Menschen es auf sich nehmen, an eine neue Welt zu glauben, dann wird sie sich so oder ähnlich auch einstellen. Dazu müssen sie sich gegenseitig gleichsam an der Hand nehmen, Liebe walten lassen und sich für den Nächsten, den Mitmenschen, den Bruder und die Schwester einsetzen», schloss er. Letztlich seien wir eines Geistes Kinder, die sich gleichsam auf einer Schaukel in einer Art instabilen Gleichgewichts befänden. Dies sei der Nährboden, aus dem Ungeahntes, Grosses und Neues kreativ entstehen könne.

Er schliesse sich, um hier nochmals auf den weltlichen Aspekt der Verheissung hinzuweisen, auch der Meinung derer an, die voraussagen, dass die Welt nach Corona eine andere sein werde. Dies bereite ihm aber keine Kopfschmerzen. Vermutlich, davon sei er überzeugt, würden viele Menschen, wenn sie die Wahl hätten, die alte Welt herüberzuretten, abwehren. Sie würden argumentieren, einiges an der alten Welt sei es wert, gerettet zu werden, vieles aber könne man getrost dem reissenden Strudel der Spirale hinunter in die Leere überlassen. «Besser und schöner hätte ich das nicht sagen können,» dankte ich Berni für seine Offenheit. Es sei mir abschliessend wichtig, mich nochmals eingehend für seine Unterstützung zu bedanken, die er Erni und Stoffel zuteilwerden liess. «Damit hast du wohl schlimmeres verhindert und unsere ungelenken Eisläufer davor bewahrt, kopfüber in die Bande zu fahren.»

Veröffentlicht von Proteus on fire

Freischaffender Feuilletonist

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