
Wenige Tage später nach der Aktion «Freundesdienst» läutete es an meiner Haustür und Ernis braungebranntes Gesicht lachte mir freundschaftlich offen entgegen. Erfreut ihn zu sehen, reichte ich ihm die Hand und bat ihn, einzutreten. «Gut siehst du aus, wie frisch zurück vom Mittelmeerurlaub in Mallorca,» begrüsste ich ihn. «Es tut mir leid, wenn ich dich stören sollte,» hackte er sofort ein. Aber angesichts der Situation, in der er stecke, sei es bestimmt nachvollziehbar, dass er es vorziehe persönlich bei mir vorbeizuschauen.
«Stoffel hat dich sicher über das Buschtelefon schon zum der Stand der Dinge fachmännisch umständlich aufgeklärt und dass meine älteste Tochter mit den Kindern nun bei mir wohnt,» solange wenigstens, bis sie wisse, wie die weitere Zukunft zu gestalten sei. Vorab wolle er sich bei mir aber für seinen unflätigen Auftritt damals auf der Hirschenterrasse entschuldigen. Der Hilfe suchende Anruf seiner Tochter hätte ihn erschreckt, aus dem Gleichgewicht gebracht und ihn vergessen lassen, mit wem er gerade zusammensass. «Lass mal,» gab ich Erni verständnisvoll zu verstehen. «Ich bin froh, dass du vorbeischaust. Jetzt weiss ich, dass alles wieder gut kommt,» lenkte ich unumwunden ein.
Die Sorgenwogen hätten sich etwas geglättet und der Sturm an Kraft verloren. Der Grund seines Hierseins bestehe unter anderem auch darin, mich heute Abend zu einer kleinen Wiedersehensfeier einzuladen. «Hilfe,» begehrte ich theatralisch abwehrend auf. «Sag bloss, du willst uns bekochen, » fragte ich mit gespieltem Entsetzen. Ja auch er hätte die Gesellschaft seiner Freunde mitsamt all ihren Sticheleien vermisst, aber ich könne beruhigt sein, seine Tochter werde dies an seiner Stelle übernehmen. Es bestehe also keine Gefahr für üble Magenverstimmungen. Er wolle auch nicht verheimlichen, sich trotz aller Dramatik natürlich zu freuen, dass Tochter und Kinder nun bei ihm wohnten. Er sei in die obere Wohnung gezogen und hätte das Parterre frei gegeben. «Wunderbar, ich nehme die Einladung gerne an und freue mich, » willigte ich frohgemut ein.
Ich vermochte meine Neugier aber nicht zu zügeln und fragte etwas scheu, was denn die Trennung zwischen Tochter und Schwiegersohn verursacht hätte. «Ach, das ist eine bittere und lange Geschichte, die ich nicht in ihrer epischen Breite darlegen möchte,» antwortete Erni. «Aber gut fragst du jetzt, denn ich möchte heute Abend am Tisch im Beisein meiner Tochter nicht mehr davon sprechen. Wir wollen schliesslich gemütlich zusammensitzen und unser Wiedersehen feiern. Im Übrigen weisst du ja schon aus dem Brief, was im Wesentlichen vorgefallen ist. An dieser Situation hat sich zwischenzeitlich grundsätzlich nichts verändert.»
«Verwünschtes Corona, schändliche Angst,» liess er seinem Unmut in der Darlegung freie Zügel und schloss mit dem Filmzitat: «Hunde wollt ihr denn ewig leben. » Er gestehe, dass er schon lange nichts mehr auf das Pandemiegerede gebe, aber eines sei gewiss, und das erlebe er am Beispiel seiner Tochter nur zu deutlich, es erhitze die Gemüter, bringe Unmut und Zwist über die Menschen und vermöge sogar Ehepartner zu spalten. «Unsicherheit, Unvermögen und Angst begleiten uns durch den Alltag und verursachen Unruhe, Durcheinander und wildes Spekulieren, wohin man hört und schaut,» und das sei seiner Tochter wohl leider auch zum Verhängnis geworden. Ich nickte verständnisvoll und versprach nicht länger davon zu sprechen. «Dann bis 18 Uhr, komm nicht zu spät, du verpasst sonst was,» verabschiedete sich Erni und entglitt mir dann so schnell, wie er aufgetaucht war.
*
Kurz vor dem verabredeten Zeitpunkt läutete ich erwartungsfroh an Ernis Haustür. Eine Frau mittleren Alters öffnete mir und lachte mir fröhlich ins Gesicht. Sie begrüsste mich mit den Worten: «Du bist sicher der Rick, denn die anderen Gäste sind alle bereits da. Du bist der Letzte. Gestatten ich bin die Marianne und habe unverschähmterweise die Parterrewohnung meines Vaters okkupiert. Du musst dich also wohl oder übel zwei Treppen hocharbeiten.» Sie reichte mir die Hand und bat mich höfflich, doch einzutreten. Sie werde mich unverzüglich zu meinen Freunden hoch führen. «Super nett,» antwortete ich. Sie habe richtig gefolgert, ich sei der Rick, «hocherfreut dich kennenzulernen,» fügte ich eilends hinzu.
Vom oberen Stockwerk klag lautes Gelächter das Treppenhaus herunter. «Ich höre, dass es da bereits hoch zu und hergeht,» bemerkte ich. Ja der Stoffel sei überglücklich, ihren Vater wieder für sich zu haben und könne sich vor lauter Übermut und Ausgelassenheit kaum zügeln. Die beiden seien wie Kinder. Als ich ins Wohnzimmer trat, fand ich sie alle wieder vereint am Tisch, den Berni, den Josef und natürlich meine beiden Protagonisten, Stoffel und Erni. «Ah, die ganze freche Bande um einen Tisch vereint, wenn das kein erhebender Anblick ist,» führte ich mich ein. «Ah, der Herr Philosoph stösst zu uns,» begrüsste mich Stoffel in seiner typisch linkischen Art. «Schön auch dich zu sehen,» antwortete ich und gab Berni und Josef der Reihe nach die Hand. Dann wandte ich mich Erni zu und reichte ihm eine Flasche Grappa zur Begrüssung und bedankte mich für die Einladung. «Die Flasche kriegst du aber nur, wenn du mir versprichst, dem Stoffel davon nichts abzugeben, der scheint ja jetzt schon Schwalben im Kopf zu haben. Aber schön, dass ihr alle da seid.» Dann setzte ich mich auf den freien Stuhl neben Erni und bekam auch schon einen milden Roten in mein Glas eingeschenkt. Wir prosteten uns zu und stiessen lauthals ein gemeinsames Hurra auf Ernis Rückkehr aus.
Stoffel erhob sich, um zu seiner vorbereiteten Tischrede anzuheben: Es sei schön, den Freund zurück zu wissen, er hätte schon bald gefürchtet, ihn bei seiner Rückkehr nicht mehr wiederzuerkennen. Apropos Erinnerung, da habe er doch kürzlich einen Artikel gelesen, in dem, lächerlich oder nicht, geschrieben stand, einem US-Forscherteam sei es gelungen, einer Schnecke die Erinnerungen einer anderen Schnecke einzupflanzen – äh wie sage man, zu transplantieren. «Da könnt ihr getrost alt werden und vergesslich,» spottete er. «Wenn der Rick vergisst, dass er hier nur geduldet wird, dann schicken wir ihn zum Onkel Doktor und der pflanzt ihm meine Erinnerung ein und schon bittet Rick künftig katzbuckelnd und demutsvoll um die Teilnahme zu unseren auserlesenen Treffen.» «Na, na, jetzt übertreib es nicht mein Freund,» ermahnte ihn Erni. «Vergiss nicht, ich war es, der ihn eingeladen hat. Der Rick hat das Herz am rechten Fleck. Benimm dich, oder wir machen dich zur Schnecke,» bemerkte er lachend in die Runde. «Schon gut, ihr Schleimspender,» gab sich Stoffel geschlagen, stand auf und umarmte mich kameradschaftlich. «Fang jetzt bloss nicht an zu weinen, Rick,» wir mögen dich hier alle und Tränen wären wenig angebracht.
«Wenn ihr euch dann endlich genug geherzt habt,» grätschte Berni etwas ungeduldig dazwischen, «dann würde ich gerne mehr von diesem Artikel erfahren.» «Ja, richtig,» gab auch Josef gespannt zu verstehen, das Experiment klinge vielversprechend. Es sei überhaupt erstaunlich, worüber man sich weltweit so Gedanken mache und was bereits heute schon alles möglich sei. Daran erkenne man, dass unsereins das Alter aufhockt. «Verstehe,» nickte Stoffel zustimmend. «Bin gespannt was unser Kirchenmann zu diesem wissenschaftlichen Durchbruch zu kommentieren weiss.» So viel vorwegnehmend, der spannendste Satz des Artikels lautete, so seine Meinung: «Was, wenn dies einst auch bei Menschen gelänge?» Stellt euch vor, wenn der Berni auf Grund einer momentanen Demenz seine Liebe zu Gott verliert und man ihm als Ersatz dann meine diesbezüglichen niederen Erinnerungen einimpft. Eine lokalere Katastrophe als den medizinisch veränderten Berni auf der Kanzel in unserer alten Hauskirche könne er sich gar nicht ausmalen. Wir brachen alle in schallendes Gelächter aus. Selbst Marianne, die inzwischen ebenfalls am Tisch Platz genommen hatte, hielt dabei mit.
«Genug der Witze,» fand Berni als erster wieder zur Sprache zurück. «Willst du uns gütiger Weise nun einige feinere Details des Artikels verraten, nachdem du dich ausgiebig auf meine Kosten lustig machen durftest.» «Ach komm, Berni, lass gut sein,» beruhigte der Josef seinen Tischnachbarn. «Hast dich bewährt, kriegst von mir dafür am nächsten Sonntag einen richtig dicken Spendenbatzen.» Ja wenn das so sei, meinte Berni, dann möge man doch munter fortfahren mit dieser unchristlichen Lästerei: «Vorausgesetzt ich sehe euch am kommenden Sonntag fromm vereint mit dicker Geldbörse zwischen den Kirchenbänken kauern.» «Schau her, der Junge ist käuflich,» mischte sich Erni ein, «hätte ich nie von dir gedacht.» Er sei nicht käuflich, sein Herz und seine Seele gehöre ganz Christus. Er habe schliesslich einen Kirchen Sigrist, der für ihn den unangenehmen Part übernehme, wenn dieser das Spendennetz am Ende des Gottesdienstes herumreiche. Er werde ihn aber entsprechend unterrichten, damit er genau darauf achte, «was und wieviel ihr Spötter in den Topf werft und ob ihr redlich Busse tut».
«Es reicht nun wirklich ihr treuen Eidgenossen,» platze Marianne dazwischen. Sie wolle wissen, ob die Gäste nun hungrig seien, und sie auftischen dürfe. Da wurde es schnell still am Tischrund und man klatschte die Hände. «Sehr gerne, Marianne,» bedankte sich Stoffel. Er wisse von Erni, dass sie eine Superköchin sei und freue sich schon riesig auf das Essen. Kurze Zeit danach stand ein grosser Reiscurry Eintopf mitten auf dem Tisch. Es wurde ruhiger und alle begannen sich der Reihe nach zu bedienen. Ein leckerer Duft von Curry und süssen Früchte verbreitete sich im Raum und bald hörte man bis auf das lustige Klappern der Bestecke kaum noch ein Wort.
Erni schaute verstohlen in die Runde und spürte unvermittelt stark, wie sehr ihm die Gesellschaft seiner Freunde gefehlt hatte und wie er es liebte, mit ihnen nun wieder vereint am runden Tisch zu sitzen, die köstliche Mahlzeit und den süffigen Wein gemeinsam zu geniessen. Er freute sich beim Anblick von Mariannes entspannten Gesichtszügen und ob ihrer grossaartigen Gastgeber-Qualitäten. Selbst sie schien den Abend zu geniessen, obwohl ihr doch bis auf ihren Vater und Stoffel die andern fremd waren. Keiner am Tisch sparte an gebührendem Lob und man feierte Marianne für ihre filigranen Kochkünste. Erni hatte seine Tochter schon lange nicht mehr so fröhlich erlebt und das war dem bangenden Vaterherz Balsam.
*
Wow, er habe schon lange nicht mehr so viel und so lecker gegessen, seufzte Berni. Doch jetzt müsse er einhalten, sonst werde er bestimmt gleich aus allen Nähten platzen. Josef musste ihm schmunzelnd zustimmen und bedankte sich wohl schon zum dritten Mal für das Festessen bei Marianne. Jetzt sei er gerüstet, um endlich nähere Details von dem Schneckenexperiment zu erfahren. Sie hätten ja nun wohl alle geschlemmt, so dass einer spannenden Auseinandersetzung nichts im Wege stehe. Erni pflichtete dem Anliegen mit einem fordernden Seitenblick auf Stoffel bei. Oh, er sei im Moment viel zu gut aufgelegt und leicht erschöpft und verspüre so gar keine Lust, über Schnecken und klinischen Kram zu reden, zierte sich der Angesprochene. «Bist ein echter Spielverderber, » rügte ihn Berni. «Aber was soll’s,» er habe wohlweislich während des Essens mit dem einen oder anderen Gedanken gespielt und dabei zum vorläufigen Schluss gefunden, dass dies schäbige Träumereien von Transhumanisten seien, quasi beliebig Erinnerungen und gar ganze Komplexe davon von einem Tier ins nächste zu transplantieren. Und mit Menschen sei das ohnehin nicht möglich. Das menschliche Bewusstsein sei mehr als bloss eine grosse Ansammlung von Erinnerungen, die man gleichsetze mit der Identität. Der Mensch sei nach dem Ebenbild Gottes geschaffen worden und der habe beim Schöpfungsakt bestimmt nicht nur billig Erinnerungen in zum Leben erwachte Golems eingehaucht. Was denn ein Golem sei, wollte Josef nachgerade erfahren. Das sei eine mystische Gestalt aus dem jüdischen Kulturkreis. Der Golem sei ein stummes Wesen, das nach kabbalistischen Regeln aus Lehm gestaltet wurde und über grosse Kräfte verfüge. Man konnte ihn für gute wie schlechte Missionen in den Dienst nehmen.
«Mensch Berni, das war jetzt unglaublich feurig, was du eben zum Besten gegeben hast,» er müsse aber entschuldigen, wenn er ihm an dieser Stelle dazwischenfahre, ereiferte sich nun Stoffel, plötzlich wieder aus dem Verdauungspäuschen aufgewacht. «Du verwechselst diese Festtafel hier wohl mit einem deiner frommen Sonntagsschulauftritte im Gemeindesaal deiner Kirche. » Eine Transplantation mit dem Schöpfungsakt zu vergleichen sei doch wohl des Guten zu viel. Erni und ich sahen uns kurz erstaunt an. Dann wandte sich Erni respektvoll an Stoffel und fragte ihn, ob er etwa insgeheim Bücher zu lesen begonnen habe. «Willst du mich ärgern, » fragte Stoffel gereizt zurück. «Nein gar nicht, » beeilte sich Erni seinem Kumpel zu versichern. Er sei bloss erstaunt ob dessen selbstbewusster Redeweise. Diese erstaunliche Seite habe er bei ihm bisher leider noch viel zu selten beobachtet.
Josef lachte und warf ein: «Kein Wunder, ohne seinen belesenen Kumpel an der Seite ist dem armen Stoffel doch gar nichts anderes mehr übriggeblieben, als sich endlich selber etwas beizubringen. Ein Quäntchen mehr an Weisheit kann auch ihm nicht schaden.» Er wisse zufällig, verteidigte sich Stoffel, dass im 17. Jahrhundert in der Philosophie der Glaube umging, die persönliche Identität setzte sich ausschliesslich aus den Qualitäten des Gedächtnisses zusammen. Dies würde ja seiner Ansicht nach bedeuten, dass man einen Menschen, wenn man ihm das Gedächtnis eines Mitmenschen einpflanzte, zum Klone degradieren würde. «Echt der absolute Erinnerungsgau, » stöhnte Berni, «wenn dies realisierbar würde». «Das haut mich jetzt echt aus den Socken, Kumpel,» wandte ich mich, Bernis berechtigte Sorge vorerst ignorierend, erstaunt an Stoffel. «Woher plötzlich dieser Scharfsinn und die leichtschneidige Schlussfolgerungsgabe. » «Ich glaube, der Stoffel war zu lange mit dir zusammen während der Abwesenheit von Erni, » unterbreitete mir Josef seine zotenhaften Bedenken. «Bestimmt nicht! John Locke, der englische Philosoph, von dem diese Ideen stammen, hat noch nie in mein Repertoire gepasst,» verteidigte ich mich fast schon entgeistert.
«Erinnerungsgau,» das sei der treffende Begriff dafür, griff nun Erni Bernis Bemerkung auf. Das käme einem schamlos ausgeführten Raub der Persönlichkeit gleich, ereiferte sich Erni. Wenn diese Methode funktionieren würde, dann wäre einer in der Lage, für sich eine ganze Armee an Klonen zu fabrizieren, die alle wie programmiert, über dieselben Gaben und Schwächen verfügten. Ganz so schlimm sei es ja wohl noch nicht, versuchte sich Stoffel zu erklären. In dem Artikel, den er da eher zufällig und aus einer Laune der Langeweile heraus gelesen habe, sei ja auch nur von einer einzigen Erinnerung die Rede, welche über einen neuronalen Botenstoff von der konditionierten Schnecke auf eine andere übertragen worden sei. Man habe der einen Schnecke über klassische Konditionierung ein bestimmtes, auffälliges Verhalten auf Gefahr antrainiert, habe dann den Botenstoff entnommen und der anderen Schnecke eingespritzt, worauf diese erstaunlicherweise dasselbe Verhalten in Gefahrensituationen an den Tag gelegt hätte. «Gruselig,» kommentierte Josef: «Da sind Golems bestimmt nur Weisenknaben dagegen.»
Josef, der sich darüber insgeheim etwas ärgerte, dass man über seine Witze nur selten lachte, war entschlossen, nun selbst noch einmal eine Zote zu wagen. Er meinte theatralisch gestikulierend: «Unvorstellbar, wenn man dem Erni den Botenstoff, der für sein nervöses Augenlidflattern verantwortlich sei, entnommen hätte und ihn ihm, dem Altgemeindepräsidenten übertragen hätte. Ich mag es mir gar nicht ausmalen. Man stelle sich das vor! Die Leute hätten ihm dies doch unweigerlich als politische Schwäche ausgelegt, als Unsicherheit oder gar Unmündigkeit. Mit Sicherheit wären sie ihm weniger überzeugt in seinen damaligen Entscheiden gefolgt.» Keiner lachte. «Kerle pass auf, was du da von dir gibst,» drohte Stoffel dem Josef nach Tiroler Art. «Keine Ahnung, was du uns da für einen stinkigen Käse auftischt – Augenlidflattern, Altgemeindepräsident, so ein Unfug. Du kannst deine billigen Witze mit jedem anderen treiben, nur nicht mit unserem hochverehrten Erni.» «Aber es stimmt doch,» verteidigte sich Josef. «Ist denn noch keinem von euch angetrunkenen Duseln aufgefallen, dass Ernis rechtes Lid zu zucken beginnt, wenn er sich ereifert? » «Richtig beobachtet, Josef,» mischte sich Marianne lachend ein. «Mein Vater hat tatsächlich diese leicht auffällige Angewohnheit bei Ärger oder unter Stress.» Aber man müsse schon sehr genau hinschauen, bis man es bemerke, meinte sie zu dessen Ehrenrettung. Und vielleicht sei er es ja, der mittlerweile genug getrunken hätte.
«Und du Josef,» mahnte Erni gelassen, «du hast zu deinen besten Amtstagen leider nur gelernt, wie man lügt ohne rot zu werden. Und darauf hast du dich neidlos mit einer gewissen Kunstfertigkeit verstanden und dir darauf wohl gar noch etwas eingebildet.» Er könne sich an das eine oder andere politische Begehren erinnern, wo es mitnichten nur um das Wohl der Gemeinde gegangen sein. Es seien Geschäfte gewesen, bei denen vermutlich auch er persönlich profitiert habe. «Unverschämt,» begehrte Josef auf. Er schien für einen Moment seine Orientierung verloren zu haben und schwankte innerlich, ob er nun beleidigt reagieren wolle oder das Ganze mit einem saloppen Lächeln wegstecken sollte. «Siehst du,» kommentierte Stoffel und half ihm aus der Patsche, «wer austeilt muss auch in der Lage sein, einzustecken. Keine Sorge, du bist auch ohne witzig zu sein ein spassiger Kerl, den wir alle mögen. Ist es nicht so Freunde?» Alle willigten lauthals ein, lachten und prosteten sich erneut zu. Hinterher wurde es für einen Moment still im Wohnzimmer.
Marianne nutzte die Pause, versuchte den unangenehmen Moment in Vergessenheit geraten zu lassen und fragte, ob jemand Lust auf Dessert und einen Kaffee habe. «Sehr gerne, Marianne,» ermunterte Stoffel die Tochter seines Freundes. Und pack doch gleich noch den klaren Apfelsaft mit aufs Tablett, den der Rick deinem Vater heute geschenkt hat.» «Glaubst wohl, ich hätte schon wieder vergessen, was der Rick mir bezüglich des Grappa aufgetragen hat,» gab Erni mit ernster Miene zu bedenken. «Gib auf Erni, wir lassen für einmal Gnade vor Recht walten,» lenkte ich grosszügig ein. «Der Stoffel hat sich heute engagiert und thematisch wacker geschlagen, da wollen wir ihm doch einen kleinen Absacker gönnen.» Absacker, was das denn sei, fragte Berni interessiert. «Wenn du nach dem Gottesdienst den verbleibenden Rest des Rotweins in ein Glas schenkst und das Blut Christi selber trinkst, bevor du nach Hause gehst, dann nennt man das Absacker,» erklärte ihm Josef. «Verstehe,» grinste Berni. Nun, vielleicht würde es uns ja dann gelingen, Jesus gleich auch Wunder zu wirken, ergänzte Stoffel.
«Ich bin der Meinung, dass unsere Schneckengeschichte, die ja provisorisch in einem von Berni ausgerufenen Erinnerungsgau endete, immer noch auf eine Gegenposition wartet,» versuchte ich die Aufmerksamkeit meiner Freunde noch einmal auf das zufällig gewählte Thema des heutigen Abends zu lenken. «Auch gut», unterstützte mich Stoffel: «Dann gibt’s hinterher gleich noch einen weiteren Absacker.» Und wenn dann jemand Weiteres auch noch etwas beizutragen habe, dann sehe er persönlich einem fröhlichen Ausklang des Festes entgegen. Josef quittierte diese Aussicht mit einem kurzen akademischen Beifall auf die Holztischkante.
«Einverstanden,» versprach ich: «Ich halte mich kurz. Es ist mir ein Anliegen den Standpunkt der Metaphysiker unter den Philosophen in dieser Angelegenheit darzulegen. Berni hat erwartungsgemäss für die christliche Sicht geworben. Ich wolle gewissermassen die Stimme jener verstärken, die das Bewusstsein des Menschen auf eine seelische oder geistige Instanz zurückführen. Meine Domäne sei gewissermassen das Menschenbild der Dichter und Denken, die seit jeher den Menschen dem Mechanistischen, Funktionalistischen und Maschinenhaften entrissen und darauf bedacht waren, ihm so ein Stück Paradies und Engelsnähe aufzusparen.» «Das ist unser Rick», nickte Erni vielsagend in die Runde, «macht aus dem Menschen partout ein Geistwesen, jenseits der Erinnerungen, das mit den Flügeln des Verstandes und einer lauteren Seele seine weiten Kreise zieht. Da nützt es keinem was, wenn man diesem Wesen fremde Erinnerungen einpflanzt, deren schwache Wurzeln an der Oberfläche des Bewusstseins abgleiten und verdorren.» «Schön gesagt, Erni, danke. Wir sind wirklich alle froh, dass du uns mit deiner Gegenwart und deinen teuren Gedanken wieder beehrst. Lasst uns alle hier am Tisch ein letztes Mal für heute Abend anstossen. Zumindest ich mache mich hinterher auf den Heimweg, solange ich noch eine Chance habe, dies menschenwürdig und im aufrechten Gang zu tun.»