
Ich hatte über Wochen vergeblich versucht, Erni telefonisch zu erreichen. Ich nahm das nicht persönlich, dass er sich nicht zurück gemeldet hatte, machte mir aber Sorgen, da Ernis Verhalten beim Polittalk auf der Terrasse des Restaurant Hirschen doch eher untypisch schien und zwischenzeitlich viel Wasser den Rhein runtergeflossen war, ohne dass ich etwas von ihm gehört hätte. Ich gestehe, sein Verhalten war für mich nicht nachvollziehbar und ich fühlte mich von ihm verkannt, gleichzeitig vermochte ich mir nicht auszumalen, was ihn zu solchem Tun getrieben haben mochte.
Erni zählte nicht zu den Menschen, die dem Zynismus frönten. Und es war das erste Mal überhaupt, seit wir uns kennengelernt hatten, dass er sich mir gegenüber beleidigend geäussert hatte. Es musste also etwas Besonderes vorgefallen sein. Davon überzeugte mich auch Josef, den ich eben gestern im Dorf angetroffen hatte. Er und Erni seien nun schon über drei Jahrzehnte gute Nachbarn. Und daran hätte sich nie etwas geändert. Aber auch er könne sich nicht erklären, auf welchen asymptotischen Gefühlswellen der Mann kürzlich gesurft haben mochte. Sticheleien, ja das kenne er von seinem gutmütigen und stets freundlichen Nachbarn, Beleidigungen zählten da jedoch nicht mit dazu. Josefs und meine Ansichten deckten sich. Dann bleibe uns wohl nichts Anderes übrig, als zu warten, bis Erni uns das Rätsel von sich her auflösen werde, verabschiedete ich mich von Josef.
Das Telefon klingelte. Etwas enttäuscht las ich auf dem Display Stoffels Namen. Auch gut, redete ich mir dann ein. Vielleicht weiss Stoffel zwischenzeitlich mehr. «Tut mir leid, wenn ich dich störe,» vernahm ich die aufgeregt wirkende Stimme meines Freundes. «Keine Sorge, Stoffel, störst nicht,» meldete ich mich: «Nimm mir das nicht krumm, aber ich hätte mich wesentlich mehr gefreut, wenn jetzt Erni am Telefon spräche. Habe ihn die vergangenen Tage und Wochen mehrmals zu erreichen versucht, aber bisher blieben meine Bemühungen allesamt ergebnislos. »
«Das ist aber gar nicht nett von dir, dass du dich über meinen Anruf weniger freust,» frozelte Stoffel durch den Draht, der gewohnt für Anrufe das Handy mied, wann immer es sich anbot . Wenn ich mich bei ihm schön artig entschuldigen würde, wäre er eventuell gewillt, mir Neuigkeiten von Erni mitzuteilen, flötete er honigsüss ins Handy. «Wie, Erni,» fragte ich angespannt zurück: «Sag bloss du hast ihn gesprochen.» «Glaubst du ernsthaft, der Erni würde seinem alten Kumpel und Weggefährten einen Korb erteilen?» Das Rätsel sei gelüftet, fuhr Stoffel fort. Der Erni sei zurzeit bei seiner ältesten Tochter Marianne in der Innerschweiz zu Besuch. «Wie das,» wollte ich zur näheren Aufklärung erfahren. «Nun, es war Ernis Tochter, eben Marianne, die sich damals bei unserem Treffen gemeldet und ihren Vater gebeten hatte, möglichst umgehend zu ihr zu kommen.»
Ob ihr gesundheitlich etwas zugestossen wäre, fragte ich sorgenvoll zurück. «Nein, gar nicht, sie ist wohl bei guter Gesundheit,» mutmasste Stoffel, «befinde sich aber nach zehn Jahren Ehe in Trennung und jetzt gar in Scheidung,» erläuterte Stoffel. «Auh nein, das täte mir aber leid,» gestand ich betroffen. «Ja und denk dir, es ist Ernis Erstgeborene,» das treffe ihn besonders hart. Sie hätte seit jeher in seiner besonderen Gunst gestanden. «Kein Wunder also», so Stoffel weiter, dass er bei unserem letzten Treffen seine Fassung verlor und stante pede und erklärungslos verschwunden sei. «Klar,» seufzte ich. Da kann man nichts machen und schon gar nicht helfen. «Ich verstehe, dass er ihr in dieser bestimmt für ihn auch nicht leichten Zeit beistehen will,» gestand ich.
Stoffel erläuterte, er hätte eben heute von unserem gemeinsamen Kumpel einen Brief erhalten, den er mir gerne vortragen würde. Ob ich heute Nachmittag Zeit für ein kleines Besäufnis hätte auf der Terrasse des Hirschen. «Auf jeden Fall! 15 Uhr? Passt das,» fragte ich. «Alles klar, Schwerenöter, 15 Uhr, und du zahlst,» antwortete er lachend. Sag bitte dem Berni und dem Josef nichts von unserer Verabredung. Er glaube, dass es nicht im Sinne Ernis wäre, wenn alle diesen Brief zu Gesicht bekämen. «Dies ist nämlich ein persönlich an uns beide gerichteter Brief.» Er bitte darin unter anderem auch um unsere Hilfe.
*
Ich war schon sehr gespannt auf den Inhalt des angekündigten Briefes, so dass ich einiges zu früh auf der Terrasse des Restaurant Hirschen anlangte. Als Stoffel zum verabredeten Termin erschien, begrüsste ich ihn vorsorglich aussondierend mit den Worten: «Es tut mir leid, falls du wegen mir, dem Ungeimpften, unfreiwillig hier draussen an der frischen Luft dein Bier schlürfen musst. Du ahnst es, ich habe kein Zertifikat und darf ja darum laut Gesundheitsverordnung nicht im Inneren des Restaurants Platz nehmen.» «Ich erwarte nichts anderes von dir. Wäre sonst arg enttäusch. Du solltest dich nicht entschuldigen. Erstens habe ich mich entsprechend den herbstlichen Temperaturen etwas wärmer angezogen; zweitens bin auch ich nicht geimpft und lebe, oh Wunder, trotz der schlimmsten aller Pandemien immer noch.» «Da bin aber froh, denn ohne Erni ist es schon schlimm, ohne dich aber würde ich zugrunde gehen.» «Ouh du elender Spötter», drohte mir Stoffel – aber ja, die Welt habe uns noch.
Er habe auf Anraten von Erni drei Sitzungen der «Stiftung Corona Ausschuss» im Internet miterfolgt, was ihn zur der Überzeugung brachte, dass die Pandemie, wie ich das schon verschiedentlich in unserem erlauchten Freundeskreis angedeutet hätte, tatsächlich eine Fäkalie gewisser Eliten sei, mit der sie an uns Geld verdienen und ihre Aktionäre glücklich machen wollen, indem sie uns wiederholt zum Impfen animierten. Da mache er nicht mit. Er führe in seinem Bekanntenkreis wegen dieser Überzeugung schon zahlreiche Beziehungsleichen neben sich her. Aber selbst das vermöge seine Gesinnung nicht ändern. Es fühle sich ohne mRNA-Stoffe einfach besser an.
«Ich bin froh, dass du so standhaft bist, darum gehen die Konsumation dieses Treffens auf meine Kappe. Kannst heute also auf fremde Kosten dein bisschen Restverstand im Bierglas ersäufen. Was das Virus nicht vermag, die Freundschaft vermag es bestimmt. Doch warte mit dem Rausch, bis du mir den Brief unseres Freundes vorgelesen hast. Ich versprech’s, ich trag dich hinterher auch bedingungslos auf meinen Händen nach Hause,» versprach ich ihm übermütig. «Ich sehe, du hast dein loses Mundwerk noch nicht verloren,» meinte er mich aufmerksam über die Brillenränder hinweg betrachtend. Egal, er willige gern in das Angebot ein und freue sich schon jetzt auf meinen Bandscheibenvorfall. Ich müsse wissen, dass er an die 90 Kilo mit sich herumtrage. Die Welt schien wieder in Ordnung und wir blieben uns nichts schuldig. Dann orderte ich von der Bedienung zwei Biere.
Ich wandte mich wieder Stoffel zu und fragte ihn interessiert, ob er denn zwischenzeitlich in regem Kontakt zu Erni gestanden habe und ich liess ihn wissen, dass dieser mich elendiglich im Stich gelassen habe und auf keines meiner Telefonate reagierte. «Ja weisst du», erklärte mir Stoffel, «wenns um Familie geht, da steht bei Erni jeder und jede hinten an.» Selbst er hätte in der langen Zeit nur gerade zwei Telefonate seines Freundes zugewilligt bekommen. Und da sei es ausschliesslich um das Schicksal seiner Tochter und der beiden Enkelkinder gegangen. Und gestern habe er den Brief von Erni erhalten, worin er seine Lage ausführlichst schildere. «Aber ich denke», hielt er sich kurz, «dass du jetzt sicher den Inhalt des Briefes persönlich erfahren möchtest». Da zwischenzeitlich die Bestellung schäumend vor uns auf dem Tisch stand, prosteten wir uns zu und nahmen einen kräftigen Schluck. Daraufhin entnahm er seiner Jackentasche den Brief und öffnete ihn. Mir entfuhr ein erstauntes Oh, als ich sah, dass Erni seine Gedanken auf lilafarbenes Briefpapier gekritzelt hatte. «Ich dachte, du wolltest mir Ernis Brief vorlesen», witzelte ich, «auf die Intimitäten deiner Geliebten kann ich verzichten». «Blödmann», konterte Stoffel leicht errötend und geschmeichelt, «Erni hat doch das Lilapapier von seiner Tochter. Ein neutrales Weiss gab es da wohl nicht».
*
Stoffel räusperte sich, rückte seine Brille zurecht, runzelte die Stirn und begann dann mit dem Vorlesen des Briefs:
Lieber Stoffel,
ich wollte mich schon länger her bei dir melden, die Umstände hier im Haushalt meiner Tochter liessen es indessen bisher nicht zu. Und bevor ich es vergesse, richte dem Rick doch meine besten Grüsse aus und entschuldige mich bei ihm, dass ich seine Anrufe unbeantwortet liess. Am besten gibst du ihm diesen Brief zu lesen. Noch besser, trinkt einen Roten auf meine Rechnung und lies ihn ihm vor. Ich hoffe euch bald wieder bei bester Gesundheit anzutreffen, kann aber leider noch nicht genau sagen, wann es soweit sein wird. Bestimmt dauert es nicht mehr lange.
Wie ihr ja vielleicht wisst, stecke ich hier in Rapperswil fest, und versuche meiner Tochter mit ihren beiden Kindern über den Tag zu helfen. Ihr Mann hatte ihr erst mitgeteilt, dass er sich von ihr zu trennen beabsichtige und zwischenzeitlich ist daraus nun eine Scheidung geworden. Ich mische mich da zwar nicht ein, dennoch erachte ich es als eine Art Ironie des Schicksals, dass bei diesem Zerwürfnis ausgerechnet Corona im Zentrum steht. Als ich sie darauf ansprach, erläuterte mir meine Tochter, sich zusehends in eine Wut hineinredend, dass ihr Mann, der sich impfen liess, nun auch forderte, dass sich ihre beiden Töchter impfen lassen. Und selbstverständlich verlange er dasselbe auch von deren Mutter.
Marianne, meine Tochter, verfügt über eine ausgeprägt klare Einstellung zu diesem Themenkomplex und ist in Rage geraten, als Konrad, ihr Mann, mit dieser Forderung an sie herangetreten war. An diesem Abend sind wohl üble Worte gesagt und viel Porzellan zerschlagen worden. Ich will jetzt hier auf Einzelheiten verzichten, aber soviel ist Fakt, Konrad hat noch am gleichen Abend den Haushalt verlassen und ist zu einem Freund gezogen. Ja und daraus ist nun gar eine Scheidung resultiert, was mir für Marianne und die Kinder sehr leid tut. Gleichzeitig hat sich die Schule angefangen quer zu stellen, weil sie verhinderte, dass ihre Töchter geimpft wurden. Die beiden Mädchen werden nun von ihren Mitschülerinnen und den Lehrerinnen gemoppt, was dazu führte, dass sie sich weigerten, weiter in die Schule zu gehen.
Aus dieser unseligen Konstellation hat sich nun ein Plan entwickelt, der so ausschaut, dass Marianne das Haus in Rapperswil zu verkaufen beabsichtigt und bis auf weiteres bei mir einziehen will. Dies ist ja weiter kein Problem, da ich in die obere, etwas kleinere Wohnung ziehen kann, während Marianne mit den Kindern genug Platz im Parterre findet. Zudem eröffnet es mir die Aussicht, euch Schwerenöter endlich mit einer fetten Umarmung der Wiedersehensfreude zu peinigen.
Ich hatte in den letzten Wochen Gelegenheit, meine Tochter neu und vertieft kennenzulernen. Ich bin stolz auf sie. Sie hat sich zu einer verantwortungsbewussten, standhaften und aufrichtigen Frau entwickelt. Wir hatten uns nach ihrer Heirat etwas auseinandergelebt, was meine Schuld war, da ich kaum einen Hehl daraus machte, für Konrad nur wenig Sympathie zu empfinden. Das war zwar dumm von mir, aber immerhin, das sage ich jetzt euch hinter vorgehaltener Hand, der Typ ist ein arroganter, selbstgefälliger Schnösel. Aber das bleibt unter uns.
Stoffel und ich sahen uns lachend an. «Typisch Erni,» bemerkte ich, «kann einfach nicht auf sein Mundwerk sitzen». «Ein ehrgeiziger Börsianer und ein pensionierter Lehrer – das kann ja nicht gut gehen», konstatierte Stoffel. «Kann mir vorstellen, dass da in Rapperswil zurzeit wohl alles drunter und drüber geht», wandte ich mich an Stoffel: «Ist sicher für die Kinder sehr schwer. Die vermissen doch ihren Vater und ein Haus verkauft sich auch nicht so leicht von einem Tag auf den anderen.» Stoffel schnupperte aufgeregt in der Herbstluft: «Pommes Duft steigt mir in die Nase, lecker.» «Hör dir den an,» äusserte ich mich mit gespieltem Entsetzen, «der Herr begehrt nach einer fetten Portion Schnipo (schweizerdeutsch für Schnitzel und Pommes Frites). Wohlan denn, bist eingeladen. Hast wohl zuhause nichts als Mäuse in deinen Lebensmittelschränken».
«Ach weisst du», meinte Stoffel leichthin, «ich muss mich schliesslich entsprechend stärken, denn der Erni erwartet von uns beiden, dass wir noch heute oder morgen in sein Haus gehen, um nach dem Rechten zu schauen. Du verstehst das bestimmt richtig, er erwartet, dass wir bei ihm aufräumen und sauber machen.» Ich staunte nicht schlecht. «Das ist also die Hilfe, von der du eingangs gesprochen hast. Du willst mich wohl veräppeln. Erni würde das nie so unverhohlen frech von uns fordern.» «Hast ja recht, Kumpel. Das war meine Idee. Ich dachte halt, Erni würde sich bestimmt freuen, wenn er in ein aufgeräumtes und sauberes Haus zurückkehren kann.» «Bist ein wahrer Freund», antwortete ich. «Lässt dich hier von mir auf meine Kosten aushalten, isst dich satt und besäufst dich und schickst dann mich an die Putzfront.» «So dachte ich mir das», lachte mir Stoffel frech ins Gesicht.
Kurz darauf machten wir uns gemeinsam auf den Weg zu Ernis Haus. Josef, der uns wohl kommen sah, läutete an der Tür und half uns nach einigen unbeholfen vorgetragenen Erklärungen breitwillig mit bei unserer Aktion «Freundschaftsdienst».