Bewusstseins-Anima

„Siehst du sie nicht, die Sonne, wie sie aus dem Wasser zurück ins Geviert steigt, “ fragt Anima den Sterblichen.

Es ist zwar nicht im Sinne ihres Protagonisten, die Anima ausschliesslich im Bewusstsein zu verorten, aber um über sie zu sprechen, bedarf es eben der Klarheit der Sprache. Auf das Unbewusste, namentlich das kollektive Unterbewusstsein, lässt sich bekanntlich nur annäherungs- und deutungsweise eingehen.

Als ich wieder aufwachte, befanden wir uns auf der Rückfahrt aus dem Seelengeviert. Die Schaufelräder des Dampfers schlugen schwer und vom Maschinenraum her drang dieser ölgeschwängerte Duft. Wir hatten eben die Grenze zur Dämmerung überfahren und beim Blick zurück sah ich eine schwarze oder dunkelblau gekleidete Person, die nachlässig an einen mit Holunder bewachsenen Schopf gelehnt stand und zu dösen schien. Seltsam, dachte ich, was macht dieser Mensch auf einsamer Flur da bei diesem Schuppen. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich möglicherweise einer Gesichtstäuschung unterlag, mochte ich mich doch an eine Kanalfahrt erinnern, anlässlich derer wir viele solcher Kleinstallungen passierten, die von den meisten Bauern zur Unterbringung kleinerer Maschinen benutzt wurden. Der heutige Tag und die durchaus rätselhaften Ereignisse machte es mir schwer, einen klaren Gedanken zu schöpfen und irgendwo anzuknüpfen, bei dem ich Gewissheit fand. Wild und unkoordiniert schienen meine Gedanken herumzuirren.

Und schon überkam mich die nächste Ungewissheit. Klar, ich befand mich auf der Rückfahrt, dennoch war mir unklar, welches das Ziel unserer Reise war und wie es hiess. Niemand hatte ein Wort darüber verloren und ich schien es vergessen zu haben. Sollte mich das wirklich beunruhigen? Ich hätte jetzt Wynona fragen können, welche ich, wie durch ein Wunder das Glück hatte, heute kennenzulernen. Doch wo steckte sie? Ich hatte keine Ahnung. Sie hatte sich wohl mit Rücksicht auf mich, den Schlafenden, irgendwo auf dem Schiff zurückgezogen, um selbst ein paar ruhige Momente zu geniessen. Es mag erstaunen, mit welcher Selbstverständlichkeit ich von ihr sprach, aber mir schien gleich beim ersten Aufeinandertreffen, als ob ich diese Frau schon immer gekannt hätte. Das mag irritieren. Aber noch weit verwunderlicher will mich dünken, dass ich auch den Ort unseres ersten magischen Zusammentreffens nicht zu nennen vermag, was wohl im Zusammenhang mit der Tatsache zu sehen ist, dass ich bekanntlich auch das Ziel dieser Reise, oder war’s bloss ein Ausflug, aus den Augen verloren hatte. Ich schüttelte mir den Ärger von der Seele und murrte unwirsch: «Wozu sich sorgen, zumindest die Frage nach dem Ziel wird sich wohl demnächst klären, wenn das Schiff anlegt.»

Ich hatte mich wieder zurückgelehnt und versuchte mich neu zu orientieren. Mir fiel auf, dass ich Gegend und Gewässer, wo ich mich gegenwärtig aufhielt, zu meinem Missmut nicht zu kennen glaubte, während ich mich in Gedanken an Orten aufhielt, die ich zu nennen gewusst hätte, die aber in der Vergangenheit lagen. Sie wirkten dennoch so stark in mir, dass Bilder davon aufstiegen und sich kaum merklich mit den Eindrücken der Gegenwart vermischten. Wo sollte das hinführen. Und ich fragte mich, ob ich mich wohl auf dem Weg in den Irrsinn befand. Denn genau so stellte ich ihn mir vor, den Wahnsinn, wenn man ungebremst durch die Zeiten fiel und überall und nirgends hingehörte. Ich erhob mich und griff instinktiv nach der Reling und klammerte mich daran fest. Nicht nur mein Verstand wurde in Frage gestellt, jetzt misstraute ich auch noch den Informationen meines Sehvermögens. Ein Mann näherte sich. «Sie sehen bleich aus, fehlt ihnen etwas, kann ich ihnen helfen?» Es war mir peinlich und halb zu ihm gewandt versuchte ich zu lächeln und bemühte mich, ihm für sein Angebot zu danken und zu versichern, dass es sich nur um eine kurze Unpässlichkeit handle, die sicher gleich wieder vorüber sei. Er grüsste höflich und ging dann weiter.

Die Dinge verkomplizierten sich, als nun sonor und laut, das Schiffshorn erklang, um anzumelden, dass der Dampfer anzulegen beabsichtigte. War ich an meinem Ziel angelangt, würde Wynona mich begleiten, wenn ich hier ausstiege? Ich warf einen prüfenden Blick ans Ufer, konnte in dem beinahe herbstlich anmutenden Grau in Grau der wachsenden Dämmerung aber wenig erkennen, ausser einer Anzahl von weissgestrichener Poller, an denen das Schiff von flinken Matrosen wohl gleich vertäut werden sollte. Eine gewisse Ratlosigkeit überkam mich, die in mir einen Anflug von Angst, Verwirrung und schlechten Erinnerungen auslöste. Ich sah mich in Fiebervisionen aus meiner Kindheit zurückversetzt, wo ich sicher auf dem Arm meines Vaters sitzend, die fürchterlichsten Wesen um mich tanzen sah. Sie lachten mich an und gaben mir zu verstehen, dass ich ihnen folgen sollte. «Daddy», hörte ich die Stimme meiner verzweifelten Mutter, «Jesus und unser guter Herrgott werden uns das Kind nicht etwa nehmen und zu sich holen». Sie möge sich dar ob keine unnützen Gedanken machen, da dies ohnehin nicht in der Hand von uns Menschen läge. Ja mein Vater beherrschte Zeit seines Daseins diese nüchterne Art, in jeder Lebenslage die Dinge ins richtige Licht zu rücken.

Da gab es einen Ruck. Jemand stiess mich und riss mich aus meinen lebhaften Erinnerungen zurück. «Was jetzt, Mann, können sie sich womöglich entschieden? Steigen sie nun aus oder wollen sie hier bloss Staunen und im Weg herumstehen». Ich entschuldigte mich und trat schnell beiseite. Damit war gleichzeitig unkompliziert entschieden worden, dass ich hier nicht aussteigen würde. Ich trat nun ganz zurück, um die Leute bei Aussteigen nicht weiter zu behindern und beschloss, mich endlich auf die Suche nach Wynona zu machen. Sie würde bestimmt irgendwo auf den Zwischendecks dieses grossen Dampfers sitzen. Vielleicht las sie ja und hatte die Zeit vergessen. Wohin auch immer sie sich zurückgezogen hatte, ich würde sie finden. Wieso hatte ich das nicht schon viel eher versucht. Das Schiff leerte sich, es befanden mittlerweile sich nur noch wenige Passagiere an Bord. Neue Passagiere waren nicht zugestiegen. Das Schiffshorn erklang von neuem – zum Zeichen des Ablegens.

Von irgendwoher erklangen nun leise und nur andeutungsweise Indianergesänge. Ich wunderte mich und sah suchend um mich. «Hat nichts zu bedeuten,» entschied ich, bestimmt hatte der Kapitän des Schiffs vergessen das Mikrophon nach der Landung abzuschalten. «Wie passend,» dachte ich. Ich suchte nach Wynona und der Kapitän hörte sich rituelle Gesänge von Ureinwohnern an. Konnte das Zufall sein? Wynona war unter den Amerikanischen Indianern ein weitverbreiteter Name. Er bedeutete Erstgeborne, weshalb damals praktisch jedes dritte Mädchen so gerufen wurde. Was, überlegte ich, wenn ich zum Speaker gehen würde, und ihn bäte, Wynona auszurufen, sie möge so gut sein und zum Billettschalter zu kommen? Die Idee schien mir peinlich und ich sah davon ab. Soviel Unentschiedenheit wollte nun gar nicht zu meinem Naturell passen. Was erhoffte ich mir, wovor hatte ich Angst?

«Wir haben das Geviert nun bald umschifft», hörte ich einen jungen Matrosen zum anderen sagen, «noch eine Station und wir sind angekommen. Wird Zeit, war ein langer Tag. Bin müde. Ein Bier noch und dann ab nach Hause ins Bett. Eine Mütze voll Schlaf vor dem morgigen Tag kann nicht schaden». Wo angekommen, fragte ich mich. Panik machte sich in mir breit, viel Zeit blieb mir wohl nicht mehr, meine Begleiterin wiederzufinden. «Junger Mann», wandte ich mich an den Matrosen, «entschuldigen sie, ich bin fremd hier, ich kenne mich in diesen Gewässern nicht so gut aus. Können sie mir bitte sagen, wie die nächste Station heisst». «Unsere Endstation ist…», der Matrose stockte, wandte sich an seinen Kollegen, lachte und sah dann zu mir zurück: «Ach kommen sie Mann, sie machen sich lustig über mich». «Nichts liegt mir ferner», beeilte ich mich, ihm zu versichern. «Sie wissen aber schon, dass unser Dampfer die Geviert ist?». Damit liess er mich beachtungslos stehen und eilte mit seinem Kollegen lachend davon.

Geviert – schon wieder. Ich erinnerte mich nun an die Worte Wynonas, als ich sie das erste Mal sah. «Wir befinden uns hier im Seelengeviert, mein Liebster,» hatte sie mir vielsagend zugeflüstert. Der Satz gefiel mir, da sie mich darin ihren Liebsten nannte. Doch jetzt in der Nachbetrachtung fühlte ich mich plötzlich niedergeschlagen und irgendwie heimatlos. «Unsere Liebe ist das Wohnen im Geviert», hatte mir Wynona bedeutungsvoll erklärt, als ob damit auch schon alles gesagt sei. Ich musste mich setzen. Geviert, was sollte das bedeuten. In mir öffnete sich ein Tor und der Himmel tat sich mir inmitten beim Einnachten auf. Eine steife Brise wehte mir ins Gesicht während unter mir deutlich wieder das Stampfen der Maschine zu vernehmen war und die Luft weiter vom Öl Geruch geschwängert wurde. Im nächtlichen Himmel über der Reling folgten uns Möwen, jemand musste sie wohl füttern. Ich befand mich auf der Geviert, auf dem Rückweg zum Heimathafen, es war Abend und ich wünschte, Wynona käme zu mir zurück.

Was die Eingeborenen wohl beim ersten Anblick eines Schaufelraddampfers gedacht haben mussten. Er bewegte sich zwar auch, aber nicht über die Prärie, sondern auf dem Wasser. Ein feuerspeiender wütender Mustang, der mit seinen Hufen auf den Boden trommelte, konnte das nicht sein. Vermutlich sahen sie es als eine Art wütendes Seeungeheuer an, dem man besser aus dem Weg ging, ansonsten man von ihm aufgefressen würde. Es gebe viel zwischen Himmel und Erde, welches man besser nicht zu erklären versuche, erklärte mir ungefragt ein alter Mann, der sich unbemerkt neben mir auf die Bank gesetzt haben musste. Obwohl ich mich endlich anschicken wollte, meine Suche zu starten, liess ich mich von dem Alten ablenken. Er erkenne deutlich, dass ich zu den Glücklichen zähle, denen auf das Ende ihrer Reise hin das von den Göttlichen gewährte Gastrecht als Sterbliche, auf der Erde zu leben, bewusstgemacht werde. Ich möge mir keine Sorgen machen, Wynona werde mir schon nicht verloren gehen. Sie werde gewisslich zur rechten Zeit am richtigen Ort auf mich warten.

«Was für ein seltsamer Kauz», dachte ich verunsichert. «Sitzen sie schon lange hier,» fragte ich ihn. «Ja, ja schon ein ganzes Weilchen,» seufzte er. Ich hätte ihn hier auf der Bank wohl übersehen. Meine grosse Sorge um Wynona sei ihm, wie ich wohl begriffen hätte, nicht entgangen. «Wynona,» wandte ich mich verzweifelt an ihn, «haben sie Wynona irgendwo auf der Geviert gesehen». Nein, so ein wundersames Wesen sei ihm hier auf diesem seltsamen Schiff noch nicht begegnet. Ich müsse wohl ein besonderer Mensch sein, dass mir der Himmel die Gunst gewährte, während meines zeitlich bemessenen Aufenthalts auf dieser Erde diesem Wesen begegnet zu sein, mutmasste er neugierigen Blicks. «Wir haben uns heute Mittag auf der Liegewiese des Hotels Eden gefunden, bevor wir dieses Schiff bestiegen», beeilte ich ihm zu erklären. Seien sie versichert, er wiederhole es gerne noch einmal, ich könne darauf zählen, sie gewiss wiederzufinden.

Wie er dazu komme, solches mit so grosser Bestimmtheit zu behaupten, wollte ich wissen. Nun was sich im Geviert getroffen hat, kann dem nicht entfliehen, zu stark seien die darin webenden Kräfte. Ich stand auf, verabschiedete mich von dem alten Mann und wollte gehen. Da umklammerte mich jemand sanft von hinten und Wynona legte ihren Kopf auf meine Achsel: «Siehst du es nicht, Liebster, die Sonne steigt aus dem Wasser, zwinkert uns zu und steigt wieder ins Geviert zurück.» Ich wurde augenblicklich ruhiger und reine Stille stieg in meine Seele. Meine Augen schlossen sich. Dann erklang das Horn.

Veröffentlicht von Proteus on fire

Freischaffender Feuilletonist

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