Stoffel und Erni ereilt der Gesundheitskoller

Beim Erzählen von wahren Geschichten über kleine und grosse Schicksale, Menschen, Gefühle und seltsamen Begebenheiten aus dem wirklichen Leben wird es zuweilen still und warm in der Seele.

Ich stand zusammen mit Erni an einem Brunnen in der Nähe der Post, wo wir uns gesprächsweise die Zeit vertrieben während wir auf Stoffel warteten, der sich mit uns telefonisch hier verabredet hatte. Er müsse vorher aber unbedingt noch seine Krankenkassenrechnung begleichen, hatte er uns angekündigt, um nicht in Verzug zu geraten. Ob Stoffel schon immer ein übertrieben gewissenhafter Mensch gewesen sei, fragte ich Erni. «Nicht wirklich,» antwortete er mir und warf mir einen fragenden Blick zu:. «Wie kommst du darauf, dass Stoffel besonders gewissenhaft sein soll?» Na, ja, wenn einer so bedacht und versessen darauf sei, mit seinen Rechnungen nicht in Verzug zu geraten, dann erlaube uns dies doch, auf einen Menschen mit einem entsprechenden Charakter zu schliessen. «Da täuscht du dich aber gewaltig,» belehrte mich Erni. Stoffel sei in gewisser Weise sogar das pure Gegenteil, eher ein Schlendrian – oder besser, das Musterbeispiel eines desorganisierten Subjekts. «Nun gut,» lachte ich, «dann sind wir schon zu zweit, denn ich zähle mich auch zu dieser Plage von Mensch.»

«Stoffel ist eine unruhige Seele, stets in Bewegung und immer gut für überraschende Fragen oder unerwartete Taten,» beschrieb Erni unseren gemeinsamen Freund. Darüber vergesse er verständlicherweise dann öfters die vielen kleinen Dinge des Alltags. Meist müsse ihn dann seine Frau, die Hildi, daran erinnern, dass er dies oder jenes nicht vergessen möge. Sie sei gewissermassen Stoffels sprechende Agenda. «Die beiden passen ausgezeichnet zueinander. Ein grosses Glück, dass sie zusammengefunden haben. Werden diesen Sommer 43 Jahre zusammen verheiratet sein,» erzählte mir Erni, der trotz des erfreulichen Inhalts seiner Einschätzung dabei heimlich gleichwohl eine dicke Träne von seiner Wange wischte. «Woher deine Rührung,» wagte ich Erni mitfühlend zu fragen. Manchmal beneide er seinen Freund. «Ich wünschte, Steff und ich hätten dasselbe Glück teilen dürfen,» gestand er. Ein Jahr vor seiner Pensionierung habe er sie hergeben müssen. Sie sei an Blutkrebs erkrankt und wenige Monate darauf gestorben.

Es war das erste Mal, dass ich Erni von seiner Frau Stephanie, von ihm kurz Steff genannt, sprechen hörte, und ich war etwas verwundert dar ob, dass es mir in den vergangenen Monaten nicht einmal in den Sinn gekommen war, ihn deswegen anzusprechen. Ich wäre von mir aus nie auf die Idee gekommen, dass Erni jemals verheiratet gewesen sein könnte. Im Mai, um Pfingsten herum jähre sich ihr Todestag zum achten Mal, klärte er mich auf.

«Da sind sie ja, meine beiden sympathischen Herumtreiber,» vernahmen wir Stoffels fröhliche Stimme hinter uns. «Danke dass ihr euch solange geduldet habt. Tut mir wirklich leid, ich musste etwas lange in der Maskenparade da drinnen vor dem Postschalter warten.» «So viele Leute, die ihr Geld loswerden wollen,» fragte ich. Stoffel verneinte. Eine Frau sei vor dem Schalter kollabiert. Sei einfach in Ohnmacht gefallen. Es sei auch nicht das erste Mal gewesen, dass Kundschaft vor dem Schalter unerwartet zusammenbrach, habe der Schalterbeamte mit bedauerndem Schulterzucken den Wartenden kurz angehalten erklärt. Er habe öfters selbst schon ganz unangenehme Schweissausbrüche erlebt und sich kurz zur Erholung in die hinteren Räume der Post zurückgezogen, um sich für einen Augenblick von der Maske zu befreien. Das Postamt sei alt und schlecht durchlüftet, meinte Stoffel zu uns. Da könne es schon mal stickig werden. Das vorbeifahrende Sanitätsauto übertönte unser Gespräch und hielt dann vor der Post, wo wir beobachten konnten, wie die kollabierte Person mit der Trage eingeladen wurde.

Es sei unglaublich, wieviel Geld er monatlich für seine Krankenversicherung hinblättern müsse, klagte uns Stoffel beim Verlassen des Ortes. «Da geht es uns allen gleich,» bekräftigte ich ihn in seiner Verärgerung. «Was man doch alles für seine Gesundheit in Kauf nimmt,» setzte Stoffel das Gespräch fort. «Gesundheit wird entschieden überbewertet,» mischte sich Erni nüchtern ein. Wir sahen ihn etwas erstaunt an. «Glotzt nicht so überrascht,» wies er uns unwirsch zurecht. «Ist euch noch nie aufgefallen, wie närrisch und geradezu einfältig die Menschen sich zuweilen benehmen, wenn es um ihre Gesundheit geht,» fragte er uns. «Ja klar, aber Gesundheit sei doch auch wichtig,» antwortete ich ihm Verständnis erheischend. «Ob jemand ein besserer Mensch ist, wenn er länger lebt,» fragte er uns trocken. Ich lachte etwas verwundert und gab zurück, dass da für mich kein Zusammenhang bestehe, wie er bloss dieser Schnapsidee verfallen sei. «Gesundheit wird masslos überbewertet,» resümierte er abermals. Dann erst begriff ich, dass er diese Aussage im Hinblick auf den eben erwähnten Verlust seiner Frau getroffen hatte und ich ärgerte mich über meine Tollpatschigkeit: «Mit Sicherheit nicht,» versuchte ich einzulenken, «ein langes Leben sei natürlich längst kein Garant für ein gutes Leben trotzdem wünsche man jedem Menschen doch ein möglichst sorgenfreies Dasein bei guter Gesundheit.»

Stoffel, der seinen Freund etwas besser und vor allem länger kannte als ich, fragte vorsichtig, ob das nun einer seiner seltenen Depressionsausbrüche werde oder ob er sich hier und jetzt tatsächlich im Zornmodus des Gerechten wähne. «Quatsch, ich bin doch nicht depressiv – zornig ja,»  ereiferte sich Erni. Das sei aber auch weiter nicht verwunderlich. «Seit die Menschen in Scharen, vom pandemischen Fieber geschüttelt, tot von der Stange fallen in diesen ach so gefährlichen Zeiten,» erboste sich Erni, spreche jeder nur noch von Gesundheit hier und Gesundheit da und nehme widerspruchslos alles an Lebensbeeinträchtigungen in Kauf, was die Behörden offiziell an Verhaltensmassnahmen verordneten. «Alles, was wir seit nunmehr einem Jahr tun und lassen geschieht doch angeblich zu unserem Besten, unserer Gesundheit zuliebe. Nach 12 Monaten der Einschränkungen und Schikanen ist es an der Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, ob dieser Beweggrund hinlänglich Rechtfertigung genug ist um die Existenz so vieler Berufstätiger zu gefährden.»

Was er denn vorhabe, fragte Stoffel neugierig: «Da bin ich aber gespannt zu erfahren, was dir durch den Kopf geht,» stellte er seine konkrete Frage. Seit Jahren, so Erni, werde im Gesundheitswesen doch nur noch gespart. Es fehle mittlerweile längst an genügend ausgebildetem Pflegepersonal, da die Arbeitsbedingungen im Spitalwesen insgesamt schlecht seien, lange Präsenzzeiten abverlangt und magere Löhne ausgehändigt würden. «Kleine Spitäler schliesst man und die grossen Kliniken werden nach und nach privatisiert,» fuhr er fort. «Service Public,» das war gestern, brachte er es auf den Punkt. Und sei es Zufall oder nicht – eher nicht – verteuerten sich die Gesundheitskosten jährlich und man wage ja kaum noch einen Arzt aufzusuchen wegen der stattlichen Behandlungskosten und horrenden Medikamentenpreise. Und wenn er an seine verstorbene Frau denke, dann sei es doch Fakt, dass diese völlig überteuerten Medikamente in der Regel eh nur wenig nützten.

«Gebe dir recht,» stimmte ich Erni abermals betroffen zu. «Ich zähle mich seit jeher zu den Gegnern der privaten Krankenversicherungen. Deren Privatisierung hat bei uns zu Einschränkungen, unnötigen Verkomplizierungen und Ungerechtigkeiten geführt.» Ich hätte es vor Jahren sehr bedauert, dass das Stimmvolk die Verstaatlichung des Gesundheitswesens an der Urne ablehnte. Seither spekulierten Versicherer und Pharmaunternehmer mit unserer Gesundheit an der Börse um die Wette. Je kränker wir würden, desto gewinnbringender deren Spekulationsgeschäft. Und keiner wolle, dass wir gesund sind.

«Dies alles mag richtig sein,» meldete sich nun auch Stoffel zu Wort. Vieles davon könne er schlecht beurteilen. Er sehe das mehr aus der Perspektive des Kleinunternehmers und einzelnen Patienten. Für ihn zähle, dass er seinem Arzt vertrauen könne. Ohne Vertrauen sei keine Heilung zu erwarten. Früher hätte er sich in dieser Hinsicht absolut wohl gefühlt. Doch heute kenne er nicht einmal den Namen seines Arztes. Seine Gesundheit sei aber was Privates und verlange nach einem Vertrauensverhältnis mit dem behandelnden Arzt. Leider spiele sich heutzutage das pure Gegenteil davon ab: «Kommst du mit einem Leiden angekrochen, dann klopft der Arzt dir aufmunternd auf die Schulter und schickt dich unverzüglich zu einem Facharzt im nahen Gesundheitszentrum, einem Facharzt,» konstatierte Stoffel ernüchtert, dessen Namen er nicht einmal auszusprechen imstande wäre, selbst wenn er ihn von der Visitenkarte ablesen dürfte. Den heutigen Ärzten fehle es aus seiner Sicht am Ehrgefühl. Man sei doch selbstständiger Unternehmer und stehe damit zudem im Dienste seines Nächsten. Da könne es doch nicht nur um Profit, helle Praxen, lächelndes Personal und schnelle Autos gehen.

«Unser damaliger Hausarzt,» so erinnerte sich Stoffel zurück an seine Kindheit, «leitete die Gesundheitsgeschicke, meiner Eltern, Geschwister und von mir über drei Jahrzehnte hinweg mit grossem diagnostischem Geschick, mit viel Erfolg, Aufopferung, Verständnis und Beistand. Ich kann mich sogar noch an seinen Namen erinnern, obwohl es schon so lange seither ist. Ich habe ihn fast wie einen Vater bewundert, den Dr. Balbi, wenn ich ihn nicht gleichzeitig auch wegen der Dinge, über die er waltete, etwas gefürchtet habe.» Zu jeder Tages- und Nachtzeit sei er erschienen, wenn man ihn brauchte. «Egal ob Masern, Gelbsucht, Blinddarm, Lungenentzündung oder Beinbruch, Dr. Balbi klopfte an die Tür, trat ein, legte seinen Koffer geöffnet auf den Stuhl neben dem Bett, setzte sich auf die Bettkante zum Patienten und fragte mitfühlsam, wo es denn fehle,» schilderte uns Stoffel höchst anschaulich und wild vor sich hin gestikulierend. Dies seien die wahren Helden des Alltags, rühmte er, doch solche Ärzte gebe es leider schon lange nicht mehr. Er könne sich beispielsweise nicht einmal mehr an den Namen des Arztes erinnern, den er gestern wegen einer Taubheit in den Füssen aufgesucht habe. «Gutes Mann, sie mussen gehen in Spital, wo Schwester macht ein MRI von ihre Fuss,» ahmte zu unserer Belustigung Stoffel die Ausdrucksweise seines ohrenfällig aus dem Ausland stammenden Arztes nach.

*

Wo wir doch gerade dabei waren uns gegenseitig Kranken- und Sterbegeschichten aus der persönlichen Vergangenheit zu erzählen, schickte ich mich nun an, meinen Freunden die mit Freud und Leid durchzogene Erinnerung an den Todestag meiner Mutter zu schildern: «Ich wusste, dass meine Mutter sterbenskrank war, erschreckte dann aber doch, als ihr behandelnder Arzt im Spital mir anrief und mitteilte, dass ich möglichst schnell anreisen möchte, meine Mutter liege im Sterben.» Ich hätte mich am späten Nachmittag auf den Weg gemacht. Am Spital angekommen begrüsste mich eine aus der Erinnerung an die Schulzeit bekannte Stimme: «Der Rick.» Vor mir stand mein ehemaliger Biologielehrer und Kapuziner aus der Gymnasialzeit, die in an einer Klosterschule verbracht hatte. Der Mann reichte mir bedächtig genüsslich die Hand. «Verstehe, deine Mutter liegt im Sterben,» konstatierte er. Ob er jetzt der Mann für die Krankenbesuche im Spital sei, fragte ich ihn. «Deine Mutter ist noch nicht bereit zum Sterben,» eröffnete er mir und fuhr dann fort, «schade, sie wird einen schweren Tod erleiden, wenn es ihr nicht gelingt, das Leben loszulassen.» Woher er dies wisse, fragte ich ihn innerlich beleidigt. Er hätte sie vor drei Tagen besucht. Sie habe nur von mir gesprochen und sei beim gemeinsamen Gebet dann eingeschlafen.

Ich hatte bei der Gelegenheit weder Zeit noch Nerven, meinem Altlehrer klar zu machen, wie situationsunpassend und ungebührlich er sich äusserte. Ich hätte ihn einfach stehen lassen und sei zur Rezeption geeilt. Meine Mutter sei bereits ins Sterbezimmer verlegt worden, wurde mir auf der Krankenetage erläutert.  Man hätte mir eine bequeme Sitzgelegenheit neben das Bett der Sterbenden gestellt. Ich dürfe die Nacht gerne im Zimmer bei meiner Mutter verbringen. Stündlich schaue die Nachtschwester im Zimmer vorbei. Und wenn was sei, dürfe ich ungeniert läuten.

Wir waren stehen geblieben und meine Freunde horchten mir gebannt zu. Da sei ich denn nun also angelangt und streichelte meiner betäubten Mutter die kalte Stirn. Man habe sie mit Morphium sediert, wurde mir bedeutet, damit sie nicht so starke Schmerzen leiden müsse. Mit zunehmender Länge der Nacht hätte ich mich zusehends tiefer in meine Jugenderinnerungen verstrickt. Ich hätte gleichsam meditativ und gleichwohl körperlich gespürt, dass meine sterbende Mutter irgendwie in sie alle still und heimlich und doch massgebend mit einverwoben war. «Sie alle?» was meinst du damit, fragte Erni. «Sie, die Erinnerungen,» verdeutlichte ich und fuhr fort: «Es schien mir damals kaum ein Erlebnis, kaum ein Bild oder eine Emotion zu existieren, wo sie nicht mitten drinstand. Sie trug mich bildlich gesprochen gleichsam, wie Atlas die Welt, auf ihren Schultern,» erzählte ich. Das habe sich bis heute noch nicht wesentlich geändert.

Natürlich hätte ich mich auch wieder an meine Gymnasialzeit und an meinen Biologielehrer in seiner braunen, übel nach Weihrauch riechenden Kutte erinnert. Mir war klar, dass ich nicht zu seinen Vorzugsschülern zählte. Ich war ein mittelmässiger, mit meinem Unfug oft den Unterricht störender Schüler, der zudem der rivalisierenden Partnerreligion, den Reformierten, zuzählte. Ökumene habe es zu der Zeit vor allem als Begriff, nicht aber als gelebte Praxis gegeben – und schon gar nicht in einem traditionsreichen Kapuzinerkloster. Ich erinnerte mich, dass der grosse hagere Mann mich bei Gesprächsversuchen bereits im Ansatz meist links liegen liess und wie ein schnippischer Turmfalke mit flatternder Kutte kreischend davonflog. Erni und Stoffel mussten lachen, sie könnten sich das bildhaft vorstellen, liessen mich dann aber ohne Unterbrechung weiterreden. «Was ich von ihm in gesprochener Sprache in Erinnerung behalten habe, reduziert sich sinngemäss auf die Aussage, dass ich in späteren Jahren unter starken Rückenschmerzen zu leiden hätte.»

«Wie das,» wollte Stoffel wissen. Zum einen hätte ich mich stets ähnlich krumm wie eine überreife Banane in meine Schulbank gedrückt, «Scheuermann’sche Krankheit», hätte er dazu wohl belehrend angefügt; zum andern hätte ich bei einem Skiunfall das rechte Bein gebrochen, das seither etwas kürzer war als das linke. Ungeachtet dessen, dass er mit seiner Prognose recht behalten sollte, sei mir nachgerade aber schon bewusstgeworden, was für ein unbeholfener, wenig umgänglicher und klobiger Mensch mein Biologielehrer gewesen sein musste. «Doch zurück zur besagten Sterbenacht», rekapitulierte ich. Und versprach, mich möglichst kurz zu halten. Meine Freunde winkten ab, und bedeuteten mir, weiterzuerzählen.

Erwacht sei ich nach dieser kurzen Nacht, weil ich plötzlich lachende Stimmen vernahm. Sie drangen von aussen durchs Fenster. Arbeiter schickten sich nämlich an, über das Baugestell an jene Fassadenstellen des Krankenhauses zu gelangen, wo sie weiter zu arbeiten beabsichtigten. Dann erbebte das Krankenzimmer plötzlich vom lauten Klopfen eines Wandbohrers und ich schoss entrüstet aus meinem Sessel auf, eilte aus dem Zimmer und bat einen bediensteten Arzt enerviert, doch bitte dafür zu sorgen, dass das Klopfen aus Pietätsgründen an der Aussenwand des Sterbezimmers ausgesetzt werde. Genützt habe es nichts, so dass meine Mutter gegen 10 Uhr wie ein kämpfender Soldat gleichsam auf dem Schlachtfeld bei Kanonenfeuer getroffen verschieden sei.

Danach hätten die Dinge mich überfordert. Eine junge Schwester sei still ins Zimmer getreten, die mir unaufgefordert dabei half, die Hände meiner Mutter zu falten und ihre Augenlider zu schliessen. Zu meiner höchsten Verwunderung beobachtete ich dann, wie sie sich am Bettende platzierte, sich respektvoll nach vorne neigte und der Verstorbenen ein Gebet nachsandte. Ich fühlte mich beschämt, dass ich es ihr nicht gleichgetan hatte. Hinterher sei sie ruhig an die Seite meiner Mutter getreten, hätte sich langsam und respektvoll vornüber geneigt und habe ihr zur Verabschiedung die Stirn geküsst. Dies alles hätte sie mit dem grössten Selbstverständnis getan, berichtete ich meinen Zuhörern. Sie tat es so, als wäre dies ihre Mutter gewesen. Das habe mich tief erschüttert und mir geholfen, mich nun selbst zu verabschieden.

«Damals fühlte ich mich aus Überraschung und höchlichem Respekt dieser Person gegenüber beinahe versöhnt mit mir, dem Leben und allen Menschen. Es fühlte sich sonderbarerweise wie eine Art Erlösung an,» schloss ich meine mich tief aufwühlende Erzählung. Für einen Moment gingen wir dann schweigsam und in Gedanken versunken weiter. «Traurig und schön zugleich,» durchbrach Erni dann das Schweigen. Er habe sich bei der Schilderung des Biologielehrers ertappt gefühlt, denn auch er vermöge sich an unangenehme Schüler erinnern, die zu nichts anderem taugten, als ihm den Berufsalltag zu trüben.

«Ich als altgedienter Zimmermann erkläre dir, dass es nicht angeht, wenn Lehrer und Erzieher sich nicht angemessen um Jugendliche kümmern, die es aus irgendwelchen, uns nicht bekannte Gründen schwieriger haben, als andere, sich im Leben zurecht zu finden,» paukte Stoffel in die Runde. «Sei bloss ruhig,» wehrte sich Erni, «du weisst ja gar nicht wovon du sprichst.» «Aha, und ich bin nach deiner Einschätzung wohl einer von jenen, die sich aus unbekannten Gründen im Leben nicht so wirklich zurechtfinden,» rückte ich Stoffel, mit der Faust theatralisch Gefahr andeutend, auf die Pelle. «Hört bloss auf, ihr Schwerenöter,» rechtfertigte sich Stoffel. «Ihr habt ja keine Ahnung, wie mancher First unter meiner Bauführung schief zurückgelassen wurde,» lachte er. «Nur gut, dass du beim Bau meines Hauses nicht die Finger mit im Spiel hattest,» kommentierte Stoffel.

«Jungs,» ermunterte uns Erni, «lasst uns den Bären aufsuchen und auf unsere Gesundheit anstossen. Seit Montag ist die Terrasse geöffnet und man wird da zum ersten Mal nach dem langen Lock-down wieder bedient.» «Gute Idee,» bekräftigte ich. «Worauf warten wir noch,» fing nun auch Stoffel Feuer. Er rieche das gebrannte Fruchtwasser bereits verführerisch in seiner Nase.

Veröffentlicht von Proteus on fire

Freischaffender Feuilletonist

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