
Nach ungewohnt anhaltend kalten Märztagen kündigte sich ausnahmsweise wieder einmal ein etwas wärmerer Samstag an, der zum Aufenthalt in der freien Natur einlud. Erni rief mich in der Früh an und fragte, ob ich Lust und Zeit hätte, heute Mittag zu einer kleinen Wanderung mit Verpflegung aus dem Rucksack durch die zu neuem Leben erwachenden Lande zu starten.
Die einen gingen an Demonstrationen gegen pandemisch phantasievoll variierende Auswüchse und wir würden uns eben klamm heimlich und abseits über die Wiesen bewegen und wünschten den anderen dabei im Geiste den ihnen gebührenden Respekt und Erfolg. Die Sonne lache warm vom Himmel, Stoffel sei für einmal bester Laune und Berni, der Pfarrassistent, der wieder einmal zu Besuch bei Stoffel weilte, habe Interesse bekundet, ebenfalls am Ausflug teilzunehmen. Dann seien wir ja ein munteres Quartett und ja, ich würde mich natürlich auch und mit Freude anschliessen, egal ob zur Demo oder zum Flurgang. Ich befände mich momentan im Experimentalmodus und sei für alles zu begeistern, was nach frischer Luft, Moos und freier Natur rieche.
Punkt dreizehn Uhr erreichten wir mit dem Postauto die Hügelkuppen nächst unseres Heimatdorfes und stiegen erleichtert und befreit aus. Die Masken störten uns beim Gespräch. Und ohne Maske ging nicht, wie ein Etikett an der Eingangstür klar machte. Als ich meine Maske auf der Fahrt trotzdem entfernte, hielt der Buschauffeur zu meiner Überraschung bei der nächsten Haltestelle – obgleich keiner auszusteigen begehrte – und bat mich betont höflich, sie wieder aufzusetzen. Das reize mich geradezu nach einer Was-wenn-nicht-Frage, antowrtete ich ihm. Wenn nicht, dann würde er solange hier stehen bleiben, bis ich freundlichst ausgestiegen sei. Da ich uns den Tag nicht unnötig verderben wollte, lenkte ich ein.
«So, Stoffel, jetzt bitte ich dich, alles nochmal zu sagen, wovon du im Postauto gesprochen hast,» wandte ich mich hämisch grinsend an ihn. Ich hätte nämlich kein Wort davon mitgekriegt. Er spreche mit der Maske noch unartikulierter als sonst schon. «Solltest mal zum Ohrenarzt gehen,» meinte er akzentfrei trocken. «Was kann ich dafür, wenn du nicht in der Lage bist, deine Ohren sauber zu halten». Hygiene sei wohl nicht jedermanns Sache, wandte er sich spottend an die andern.
Dies hätte nicht immer mit mangelnder Hygiene zu tun, kam mir Berni zu Hilfe. Er hätte vor zwei Wochen eine schmerzhafte Ohrenentzündung erlitten. Die Folge davon sei gewesen, dass er sich vorgestern beim Ohrenarzt tatsächlich einen grossen Schmalzpfropfen rauswaschen lassen musste. Gemerkt habe er dies auch nur, weil alle Geräusche etwas gedämpft in seinem linken Gehörgang verarbeitet worden seien. Zuerst hätte er allerdings an einen leichten Gehörsturz gedacht. «Na ja, weisst du, das kann schon mal vorkommen, aber beim Rick ist das ein Dauerzustand, der hört schlecht, versteht wenig und gibt nur wirres Zeug von sich,» führte Stoffel geniesserisch aus. «Vorsicht Stoffel mit dem was du da sagst, du könntest stolpern und kopfüber im Kuhtrog da vorne landen,» gab ich ihm mahnend in Rechnung zu ziehen. «Lasst den Unsinn,» mischte sich nun auch Erni mit ins muntere Streiten, «ich hätte es heute ausnahmsweise mal gerne etwas harmonischer, zum Streiten haben wir noch Zeit genug.» «Ganz meine Worte,» pflichtete Berni bei. Stoffel und ich fügten uns ins Unvermeidliche und mässigten uns, was uns aber beim Anblick der sanft gewellten Hügellandschaft nicht besonders schwierig fiel.
Erni zog mich nach einigen Metern etwas beiseite und fragte mich, was ich glaubte, wie weit der Chauffeur vorhin zu gehen wohl bereit gewesen wäre, wenn ich die Maske nicht wieder aufgesetzt hätte. «Der wäre stehen geblieben, bis die anderen Passagiere angefangen hätten, mich zu bedrängen und zu beschimpfen», antwortete ich ihm. Aber was würde er wohl unternommen haben, wenn wir uns alle geweigert hätten. «Das wäre die Lösung gewesen,» antwortete ich und nickte ihm anerkennend zu mit einem schalkhaften Lächeln im Mundwinkel. «Verstehe,» murmelte Erni nachdenklich geworden. Er sehe schon, dass er dies ändern müsse. Bis anhin hätte er noch keinen Mut gefunden, gegen all die lächerlichen und nutzlosen Vorschriften aufzubegehren. «Ich bin da auch noch nicht wesentlich mutiger als du,» gestand ich meinem Freund. Aber manchmal pike es mich einfach in den Rücken und dann bleibe mir gar nichts anderes übrig als darauf zu reagieren. «Eine Art Aufstand im Affekt, wenn du verstehst, was ich damit sagen will,» schloss ich. «Verstehe,» meinte Erni, von irgendwoher kenne er den Ausspruch, der Flügelschlag eines Schmetterlings könne sinngemäss die Welt aus den Angeln heben. «Ich kenne bezeichnenderweise einen vergleichbaren Spruch aus dem Bereich der Chaostheorie,» pflichtete ich ihm bei.
«Kommt schon, ihr zwei Penner, seid wohl jetzt schon schlaff,» rief uns Stoffel zu sich: «Was habt ihr da wie zwei Pubertierende dauernd miteinander zu tuscheln.» Zum Quartett vereint eröffnete Berni auf entsprechende Nachfrage von mir das Gespräch, und erzählte uns von seinen spannenden Geschichtsstudien, die er seit einigen Wochen mit Nachdruck und grossen Interesse betreibe. Er sei vorab mit dem Jahrhundert der Revolutionen beschäftigt. Die Geschichte des Liberalismus habe es ihm angetan.
Es müsse in jenen Tagen nach der Niederlage des Kaisers schrecklich um Land und Leute in Europa bestellt gewesen sein. Vorab die Bauern hätten damals das schwerste Los getragen. Zuerst starben sie wie die Fliegen auf den kaiserliche Kriegszügen und hinterher wurden sie das Opfer von dreijährigen Wetterkapriolen, so dass wegen schlechter oder gar ausbleibender Ernten unzählige den Hungertod fanden oder am Fieber oder sonst einer Seuche zugrunde gingen. Er glaube sich zu erinnern, gelesen zu haben, dass rund ein Viertel der europäischen Bevölkerung den Tod gefunden habe in den Jahren von 1814 bis 1820. «Ach so,» nickte Erni, «du sprichst von der französischen Revolution und von Napoleon.» Ja, da müsse er beipflichten, das sei wohl wirklich eine ganz üble Zeit gewesen.
Es sei sei ihm peinlich, eingestehen zu müssen, dass es ihm als Lehrer nicht gelungen sei, das Interesse seiner Schüler für diese Europa massgebend prägenden Ereignisse zu schüren. Das Ziel der Revolution war es doch, soziale Gleichheit unter den Menschen in Europa zu etablieren und die vorherrschenden, menschenverachtenden Feudalstrukturen niederzureissen. «Ein wahrlich christ-liberaler Plan,» pflichtete Berni bei. Nur schade, dass die neuen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit so schleppend langsam in die Realität umgesetzt werden konnten. Den Spruch könne er spülen, meinte Erni. Dieser Slogen sei erst Jahrzehnte später geprägt worden, als die Revolution schon lange vorbei und der Kaiser tot war.
«Ach hört mir bloss auf mit solch unappetitlichen Sprüchen,» enervierte sich Stoffel. «Das sind doch nur in Blut getunkte Slogans auf billig bestickten Revolutionsfahnen, welche noch nie aus Überzeugung von einem Fähnrich ins Gemetzel getragen worden sind. Das sind Slogans von Intellektuellen und unter Zugszwang geratenen Revolutionsführern. Im 19 Jahrhundert sind im Namen dieses Etikettenschwindels europaweit unsägliche Blutbäder angerichtet worden, ohne dass sich die Situation der ehemals Leibeigenen in rechtlicher Hinsicht wesentlich gebessert hat.» Nachdem sich die sogenannt liberalistischen Tendenzen der Feudalherren nicht weiter ignorieren liessen, gestand man den Kleinbauern gegen Entrichtung von hohen Ablösungssummen den Kauf eines eigenen Hofs zu oder entliess sie in ein unrentables Teilpachtsystem bis auch dieses Abhängigkeitsverhältnis durch die Überführung des Bauern zum billigen Arbeiter in die Lohnarbeit abgelöst worden sei. Das seien kurz zusammengefasst die heroischen Taten des Geldadels gewesen, allfällig gefährlich werdende Unruhen aus den Bevölkerungsgruppen der Armut zu verhindern und liberales Gedankengut im Keim zu ersticken.
Und ja, es täte mir um seinetwegen leid, wandte ich mich an Bernie, «Stoffel sieht das goldrichtig und ich muss zu meinem Bedauern hinzufügen, dass gerade die Kirche innerhalb dieses überschätzen Wertewandels im 19. Jahrhundert eine unrühmliche Rolle gespielt hat.» Die Kirche habe wohl die längst Realität gewordene Säkularisierung nur schlecht verdaut, unterstützte mich Erni und vermutlich wollte sie das Privileg, mit dem Adel die Kräftemehrheit gegen den dritten Stand innezuhaben, nicht freiwillig aufgeben. Nach der weltweiten Einführung der neuen Sklaverei, sprich Lohnarbeit, hätte sich das Blatt «glücklicherweise», meinte Erni etwas sarkastisch, «ja wieder zu Gunsten von Geldadel und Kirche mit der Festigung der Bankenimperien gewendet.» Krieg sei in diesen Kreisen eben schon immer ein lukratives Geschäft gewesen, konstatierte ich.
«Leute, Leute,» wehrte sich Berni leicht theatralisch, «jetzt hoppelt ihr aber schlimmer als drei aufgeschreckte und weihelose Hasen in unerwarteten Winkelzügen und Auslassungen in je verschiedene Richtungen über die weiten Felder der Geschichte. Ihr hadert nicht zu Unrecht, wie ich beipflichten muss, mit dem euch zugeteilten Los der Taufe. Ja selbst ich, was zutiefst bedauerlich ist, zweifle zuweilen an der Rechtschaffenheit der kirchlichen Pläne.» Er könne sich nur schlecht mit den jüngst lauter und deutlicher gewordenen Vorwürfen gegenüber vieler kirchlicher Würdenträger abfinden. Pädophilie und Kindsmissbrauch seien widerlich und für ihn unentschuldbar. Was man diesen jungen Menschen angetan habe, das lasse sich mit keiner noch so grosszügigen Abfindung aus der Welt schaffen. Und nachdenklich fast traurig geworden schloss er: «Ich bin erstaunt, festzustellen, dass ihr so viel über diese doch schon etwas zurückliegende Zeit der Revolution und der nachfolgenden Bauernaufstände wisst.»
«Und wir wissen noch viel mehr,» bekräftigte Erni. «Beispielsweise neige ich dazu, zu behaupten, das der vom Feudalismus und der Obrigkeitsgläubigkeit gezeichnete Europäer eher einem hemmungslos agierenden, von Gier getriebenen Raubritter und Strassenlagerer gleicht, als einem feinen Menschen von Geist und Anstand.» «Woran denkst du dabei,» forderte ich Erni auf, uns das näher zu erläutern. Er zähle da vorerst nur vier Aspekte auf: europaweit durch Missernten verursavhte Hungersnöte; zwischen den Staaten auf Grundnahrungsmittel erhobene Schutzzölle, welche die ohnehin schon knappen Konsumgüter noch weiter verteuerten; unfähige Regierungen, die vorweg dem Geldadel huldigten und auf Hungersnöte und nachfolgende Seuchen zu spät oder gar nicht reagierten; und eine Industrierevolution, welche die Produktion von Gütern zwar einfacher und effizienter machte, aus Profitgier aber zu Kinderarbeit und unmenschlichen, zu Krankheit und Tod führenden Arbeitsbedingungen führten.
Es seien dies gerade mal vier Aspekte, die allesamt aber ausschliesslich zu dem Ziele führten, den Geldadel auf Kosten der Bauern und Arbeiter, kurzum der Armen, weiter zu stärken. Dabei habe man es an sarkastischen und widerwärtigen Diffamierungen nicht missen lassen: Wer arm sei, leide an Faulheit und verdiene nicht, unterstützt zu werden; wer in der Fabrik, wo unzureichende Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden waren, verunfalle und sterbe, sei selber schuld, hätte er seinen Beruf doch selber ausgewählt. Kinder, welche ihre Jugend unfreiwillig in der Fabrik bei harter Arbeit vergeudeten, seien selten älter als 25 geworden.
Wir drei Zuhörer taten mal so, als hätten wir alles verstanden, wovon uns Erni, der in einem Anflug von Manie geradewegs in einen Gerechtigkeitswahn hineinsteuerte und mit Tränen in den Augen sich leicht beschämt beiseite drehte. Er schien innerlich so aufgewühlt, dass er seine Absichten aus den Augen verlor und nicht merkte, dass wir eigentlich gerne mehr erfahren hätten. «Es ist unanständig und moralisch verwerflich, wenn zu Empathie unfähige Menschen die Not anderer zur Selbstbereicherung ausnützten oder damit ihren Machgelüsten huldigten.
«Es müsste für Rousseau deprimierend, ja erschütternd gewesen sein, 100 Jahre nach seinem Credo, dass der Mensch gut sei, immer noch dieselben Verhältnisse anzutreffen, gegen die er sich einst erhoben hatte,» meinte Stoffel mit belegter Stimme. Berni wandte sich zu Stoffel und fragte ihn besorgt, ob es ihm gut gehe. «Ach ja – gut, hä? Ihr Weltverbesserer habt wohl ob eurem Fabulieren ignoriert, dass es hier seit einer geraumen Weile ziemlich stark bergauf geht. Da kann ich nicht mehr mithalten,» er brauche jetzt dringend eine Pause. «Gut wehst du dich Stoffel,» nickte ich ihm zu, auch ich hätte nichts gegen eine erholsame Pause einzuwenden. Tatsächlich war jeder von uns mit einen Stopp und einer willkommenen Erfrischung einverstanden. Nur Erni, mehr Gespenst als Mensch, glich einem Geistesabwesenden, lief er doch immer noch wild gestikulierend unbeirrt weiter. Mit einem unisono getätigten mehr Schrei als Ruf, «Erni!» entlockten wir ihn mit vereinten Kräften seinem Wahn. «Komm zurück,» rief ich ihm zu: «Na, erwacht und wieder unter den Lebenden? Schon vergessen? Du trägst unsere Weinration im Rucksack. Willst dich wohl verdrücken und den feinen Rebensaft für dich allein geniessen,» scherzte ich lachend.
«Verdient hättet ihr es,» maulte der Getriezte: «Lasst mich ganz allein die schweren Flaschen tragen.» Er sei schliesslich nicht unser Maultier. «Nein du bist unser Freund und dennoch auch Grautier,» antwortete ihm Stoffel: «Nun komm schon zu uns und setz dich, wir helfen dir trinken, dann wird dein Rucksack schnell leichter,» lachte er.
«Schon erstaunlich, wie Worte so tiefgreifend in die Befindlichkeit einzugreifen vermögen,» meinte ich zu Berni. Vor lauter Weltschmerz und Gerechtigkeitssinn hätten wir es verpasst, uns an diesem herrlichen Frühlingstag zu erfreuen. Überall sprossen zart die ersten Frühlingsboten und selbst an den feinen Baumästen begann scheu ein erstes Blattgrün durchzuschimmern. Drunten auf der Schafweide erfreuten wir uns dann eine Weile am munteren Spiel der blöckenden Lämmer, bis Stoffel uns daran erinnerte, dass noch ein gutes Stück Weg zur nächsten Busstation vor uns läge.
Er hätte sich schon immer gewundert, wandte sich Erni nach einigen unbeholfenen Startschritten an mich, dass Entwicklungen, technischer und sozialer Herkunft stets zwei Seiten in sich trügen – fast wie ein Messer, das man zum Brotschneiden und Lämmer schlachten verwenden könne. «Das liegt wohl daran, dass Gegenstände, allgemeiner Objekte, weder harmlos noch gefährlich sind. Ihre temporäre Bedeutung und Wertigkeit erhalten sie vom sie nutzenden Menschen und dessen innerer Absicht, die er verfolge. Habe er Hunger, dann werde er schlachten, wolle er ein Tau trennen, dann werde er schneiden,» brachte ich meinen Argumentationsgang zu Ende.
«Man kann noch weitergehen,» sinnierte Berni: «Selbst die Tat ist weder gut noch schlecht, das Moralische steckt einzig im Bewusstsein des sie Ausführenden.» Jetzt gerieten wir aber mächtig in Schwierigkeiten, mischte sich Stoffel von hinten aufholend ein. Ein viver Geschäftsmann, der die eigene Bereicherung vor Augen führe, könne doch unmöglich unmoralisch handeln, wenn er sich ausschliesslich nach seiner willentlichen Geschäftstüchtigkeit richtet. Er tue sich dabei doch nur Gutes. Menschen die etwas erreichten, was sie willentlich anstrebten, seien nach gelungenem Cup stolz, glücklich und zufrieden. Keiner denke in einem solchen Moment daran, dass er andern damit vielleicht Schaden zufügte. «Nach westlicher Denkart gebe ich dir bedingt recht,» antwortete ich Stoffel: «Nach östlicher Mentalität beurteilt täuscht du dich, denn der Asiate hat primär das Gemeinwohl im Sinn und das wiegt wesentlich mehr, als das individuelle Wohlergehen.»
«Und ich dachte, wir wollten uns erfreuen und den Frühling zelebrieren,» mischte sich nun auch Erni selbstkritisch mit einem weiten Augenrollen wieder ein. Wir lachten und klopften ihm anerkennend auf die Schulter. «Wir schenken dir zu deinem nächsten Geburtstag zwei Lämmer,» versprach ich ihm.
«Ach wisst ihr, wir sollten uns deswegen nicht zu sehr grämen,» meinte ich dann versöhnlich gestimmt zu meinen drei Wander-Kommilitonen, «der Frühling kommt uns schon nicht abhanden.» «Wir leben seit einem Jahr ja selber in aufwühlenden und extrem widersprüchlichen Zeiten, die bei vielen dazu geführt haben, dass sie das Wichtige aus den Augen verloren, den Bund mit dem Hier und Jetzt und dem lebendigsten Leben, der Natur. Da ist es doch entschuldbar, dass man anfängt über Ethik, Freiheit, Selbst- und Fremdbestimmung und Manipulation nachzudenken.» «Au weja,» plusterte sich Stoffel nachgerade wie ein bunter Wellensittich auf: «Willst uns jetzt wohl mit einer deiner berühmt gewordenen Verschwörungstheorien beglücken.» Alle lachten. «Bringt mich bloss nicht in Versuchung,» warnte ich ihn.
«Ich pflichte Rick bei,» grätschte Erni aushelfend dazwischen. Im abstrahierenden Fernvergleich zwischen damals und heute beständen doch einige brauchbare Parallelen. «Heute sind es anstelle der Webfabrikanten die Biotech-Konzerne, denen es aus Profitgier an Empathie und Moral mangelt und die selbst den Tod anderer in Kauf nehmen; auch der Geldadel – Rick spricht hier vom Deep State – unternimmt rücksichtslos einiges, um Geld und Ressourcen zu verknappen; und selbst auf dem politischen Feld kann man Vergleiche finden, wo es von Erpressten, sich selbst Bereichernden und Handlangern der Inkompetenz nur so wimmelt. Die Leidtragenden sind die verängstigten und schlechtberatenen Menschen, die ihre Jobs verlieren, an den Freiheitseinschränkungen leiden und auf Grund ihrer Ängste, aber nicht an Corona, erkranken.» «Hört, hört,» skandierte Stoffel, heute bist du es Erni, dem wir zu Ehren seiner Würdigungsansprache an das Böse einen Alu Hut aufsetzen.» «Lachen und Weinen stehen keine zwei Schritt weit auseinander,» erinnerte ich. Und wir entschieden uns dazu , herzhaft zu lachen. «Ihr habt wohl alle zu sehr am Wein genippt,» mahnte uns Berni, weil Lachen aber gesund sei, habe er stets seinen Flachmann mit dabei. Der Cognac darin habe es in sich. Dann reichte er das kostbare Behältnis im Kreis herum. «Wenn wir so weiter machen,» räsonierte Berni, «dann nimmt uns wohl bald wohl mehr ernst. Für Aussenstehende sind wir lediglich noch ein Quartett von Angetrunkenen.» «Genaugenommen sind wir drei besoffene Greise und ein bedauernswerter Adept,» präzisierte Erni.
*
«Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung,» meldete sich eine mir vertraute Stimme von der Seite zu Wort. «Schau an, schau an, der Josef hat sich zu uns gesellt,» was für eine Überraschung, meinte Erni. «Ach ja, richtig, wir sahen uns zuletzt kurz vor den Weihnachtstagen im Einkaufszentrum,» erinnerte ich mich und reichte dem Josef zur Begrüssung die Hand. Das sei keine Überraschung, berichtigte Josef den Erni. Stoffel habe ihn angefragt, ob er sich dem Wander-Quartett anschliesse. Leider habe er den Bus verpasst und sei uns darum etwas verspätet gefolgt. «Na dann, Herr Nachbar, auf dein und unser Wohl,» und damit reichte Erni dem Josef den bis auf einen letzten Schluck beinahe leeren Flachmann. «Keine Sorge, ich trage noch mehr von dem die Kehle ölenden Gesöff in meinem Rucksack,» beeilte sich Berni zu versichern und holte flink die Ersatzflasche aus seinem Rucksack.
Er hätte da eben wenig schmeichelhafte Worte aus Ernis Mund über Politiker vernommen. «Heraus damit Erni, ist das auch deine Einschätzung zu meiner Person?» «Na ja, bedenke ich es richtig, dann muss ich schon gestehen, dass du ganz gut dazu passt,» antwortete Erni. Er hätte sich schon immer gewundert, wie er, Josef, es schon zu Amtszeiten immer wieder geschafft habe, sich nach den Gemeinderatssitzungen im Restaurant von einem Gratisbier zum nächsten durch zu schnorren. «Und daran hat sich offensichtlich nichts geändert, du schaffst das, wie man sieht, selbst heute noch.» Eins zu null für dich, gab sich Josef lachend geschlagen: «In eurem feuchten Kreis als Saufbold eingestuft zu werden, kommt einem Ritterschlag gleich.»
«In einem gebe ich euch vollkommen recht,» äusserte sich Josef, in Zeiten wie diesen helfe nur noch ein befreiendes Lachen. Es täte ihm zutiefst im Herzen weh, wenn er sehe, wie viele Arbeitslose das Pandemiejahr der Gemeinde bereits beschert habe. Und dieser bedauerlichen Entwicklung sei wohl kein schnelles Ende vorgegeben.» «Man kann nur hoffen, dass du dich täuscht,» gab Stoffel vorsichtig zum Ausdruck. «Na ja,» meinte Josef verschmitzt, «dein Optimismus in Ehren, aber wenn es dann doch anders kommt, dann spürst du das schnell an den gestiegenen Steuern und wenn du Pech hast, dann erlebst du noch zu Lebzeiten, dass die Banken in ihrer Not auf unser Erspartes zurückgreifen und um jeden Preis ausstehende Schulden einzutreiben gedenken.» Wir seien eben irgendwie immer noch im Status der Leibeigenschaft verharrt , nur die Mittel hätten sich in den letzten zwei Jahrhunderten geändert, ergänzte Erni.
«Freiheit ist ein höchst zerbrechliches Gut,» mischte ich mich ins Gespräch ein. Gerade uns Eidgenossen müsste sie doch etwas bedeuten. «Hör dir den an,» lachte Stoffel, «spricht als wäre er schon beim Rütlischwur beratend mit dabei gewesen.» Berni gebot dem Stoffel höflich vom Spott zu lassen. Der Rick habe schon recht, Freiheit sei sozial und politisch gesehen das höchste Gut und daran dürfe man nicht zweifeln: «Wenn wir sie uns wegnehmen lassen, dann verdienen wir nichts Besseres als von den Fangarmen des Kracken namens Ausbeutung erstickt zu werden.»
Unsere Freiheit stehe angesichts der vielen Abhängigkeiten und auferlegten Verpflichtungen tatsächlich auf wackligen Beinen, sprach Josef dem Berni ins Wort. Angst und Verzweiflung seien schlechte Berater. Freiheit erfordere Mut, und heutzutage komme das vermutlich auch einem freiwilligen Verzichten auf viele gewohnheitsmässige Privilegien gleich. «Schöne Rede,» kommentierte Erni. Er möge sich doch gleich wieder als Kandidat für die nächste Gemeinderatswahl aufstellen. Seine Stimme sei ihm sicher, falls er ihn richtig einschätze und ihn als Millenarist sehe. «Was ist das, Millenarist,» fragte Stoffel neugierig. Das seien Menschen, die daran glauben, dass die Welt an ein nahes Ende gelange und von einer nachkommenden, besseren Welt abgelöst werde. Vielleicht müsse er auch zum Millenarismus konvertieren, gab Berni zu bedenken, darin stecke anscheinend mehr Hoffnung als in der Bibel, er werde das prüfen. «Lass dir Zeit,» meinte Stoffel etwas erschreckt: «wenn du sonntags nicht mehr predigst, wird mir etwas fehlen.» Beim sonoren Gesang des alten Pfarrers sei er immer eingeschlafen. Und Träume in einer Kirche seinen selten schön. Da gebe man ihm wohl recht, wozu noch aufstehen und in die Kirche pilgern, wenn man da angekommen dann doch wieder nur gut weiterschläft.
Mit dem Millenarismus in den Gedanken erreichten die fünf Wandergesellen ihr Ziel und hofften auf einen schnellen Bus, der sie sicher nach Hause bringen sollte.
Schön geschrieben
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Schöner, dass es sowas überhaupt gibt.
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