Bewusstseins-Trübung

Wenn das Augenlicht nachlässt und das Bewusstsein der Wahrnumung gezielt die Kraft der Schärfe entzieht

Impressionen vermischter Herkunft: die Eindrücke einer sonntäglichen Wanderung vermischt mit der Erinnerung an die Beschreibung einer Sterbenden, während der letzten Stunden ihrer Begleitung.

Bewusstseins-Trübungen – zur Verdeutlichung, möglich sind viele und nicht bloss eine. Sie stehen in der Regel stellvertretend für die Vorstufe des Sterbens. Die Trübung beginnt mit der Einengung des Gesichts- und Wahrnehmungsfelds, was als eine Art fiebriges Phänomen beschrieben wird, und sie endet mit deren Auflösung als Übergang in eine Art Nebel und dann hin in eine sanfte Dämmerung zur Nacht, der gänzlichen Vermischung innerer und äußerer Bewusstheit – der weiteren Beschreibung entzogen.

Wenn das Leben auf diese Weise metaphorisch beschrieben und erfasst wird, erlöscht das Dasein. Alles, was in dieser Tiefe der wahrnehmenden Beschreibung noch aufgegriffen und ins Tageslicht herübergerettet wird, bereitet Angst, vielleicht sogar, in einzelnen Fällen, einen panischen Schockzustand. Doch noch einmal zur Verdeutlichung: machen wir uns nichts vor, was hier beschrieben wird, ist eine bewusst miterlebte Form des Sterbens bis kurz zum Übertritt.

Man könnte jetzt billig behaupten, jede Zeit umgebe sich und spiele mit den Geistern, die sie rief; sei es die spekulative, nie endende Zeitrechnung oder auch nur die individuell bemessene. Im Prozess der fortschreitenden Trübung kehrt man sich von der äußeren Form der Betrachtung ab und wendet sich der Erinnerung zu, um dahin zu gelangen, wo man merkt, was einem in all den vergangenen Jahren vielleicht fehlte und was man sich doch sehnlichst gewünscht hätte.

Was hier generalisierend als „man“ daherkommt, sind selbstverständlich höchst persönliche, ein Individuum auszeichnende und in anderen Menschen kaum wiederholbare Umstände und Konstellationen.

Da beklagt man sich dauernd über mangelnde Vielfalt und eine zeitbedingte Verarmung des Lebens. Grenzerfahrungen jedoch zeigen, wie einzigartig jede Daseinsform im Rahmen ihrer Spezies ist. Eigentlich genügt ein angemessenes Quantum an Aufmerksamkeit, um diese „Simplizität“ zu erfahren, denn in ausserordentlichen solchen Bereichen wird man weder geteuscht, hinters Licht geführt noch sonstwie betrogen, es sei denn, die Krankheit heißt Faulheit, Desinteresse oder Dummheit.

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Es gibt vermutlich auch weniger kontemplativ erfasste Trübungen, eine Art Vorgeschmack des dereinst zu Erwartenden. Ein aufkommendes, von Nebelgeistern begleitetes Nieselwetter etwa. Oder eine über die Jahre angewöhnte Gleichgültigkeit des Betrachtens, eine von falscher Moral und ausbleibender Ethik begünstigte Gehemmtheit im Umgang mit dem Dasein.

Was man dann im Rahmen eines Ausflugs in die Hügel einer sich wenig verändernden Landschaft an Neuem wahrnimmt, sind gewissermaßen die Pickel, Hautverunreinigungen und nekrotischen Verwucherungen der gerade lautgebenden Menschenmasse.

Dieses undisziplinierte, meist nur um Sympathie wedelnde Rudel manifestiert sich in der billigen Architektur des Gewöhnlichen und des Mangels, welche in der Vereinzelung des Erscheinens noch unbemerkt bleiben mag. Bei der Anhäufung an Augenfälligem vermag neuerdings aber nichts mehr über den anberaumten, zinsgesteuerten Kulturbankrott hinwegtäuschen. Die Landschaft wird zugemüllt und erstickt unter der Last von proklamierter Individualität und manieristischen Gelüsten getriebener Bauwut – solange, bis auch der hinterletzte grün gebliebene Naturfleck zugebaut worden ist.

Von überall her schreit dir eine plakativ zu bezeichnende Schaulust entgegen, die den für das Frühlingsversprechen eben erwachten und empfänglichen Blick abschreckt und wieder vertreibt. War es Abkehr, Flucht, Verzweiflung oder bloß Neugier – ich weiß es nicht. Das Eindringen in den von schwarzem Gusseisen gerahmten und Kontur empfangenden abendlichen Innenraum des Katholizismus verbesserte wenig und eröffnete weitere Perspektiven in ein endzeitliches Gestaltungsversagen des organisiert Geheiligten. Getrübte Lichtverhältnisse, marmorierte Dämmerung und mit dem Tod kokettierendes Schweigen erfüllten meine Sinne und entrückten mich für einen Moment in die Erwartungslosigkeit des Ewigen. Das war jetzt keine Kirche für Menschen. Hier trug man die Menschheit heimlich, abseits und schnell zu Grabe. Begrünter Grabhügel und goldene Inschrift mischen sich dann in die Täuschung und machen den Betrug vergessen.

Wieder draußen auf der Straße schaue ich in das lachende Gesicht eines Mädchens, das vergnügt an der Hand seines Vaters hängt und mit ihm herumalbern möchte. Sagt man nicht, im Leuchten der Augen eines Kindes erneuere die Welt ihre Versprechen? Man sagt aber auch, dass die Hoffnung zuletzt sterbe. Man fühlt sich nachgerade gespalten oder zumindest hin und her gerissen: hält man es mit dem Spatz in der Hand oder dann doch lieber mit der Taube auf dem Dach? Der Frühling vermag zwar vieles, aber Lügen ist nicht sein Ding. Und so fällt die Wahrheit zurück ins ermüdete Auge des Betrachters.

Die Erinnerung trägt dich zurück in eine Zeit, als eine weite, grünsaftige Wiese sich hin zum Horizont erstreckte, zerteilt von einem zurzeit nur wenig Wasser führenden, bauchig geschleiften Bachbett, an dem eine einsame Blockhütte der Abendstunde entgegen harrt. Was dieses, dem Gegenwärtigen verpflichte Bild verspricht, rührt von zwei Birken. Die eine stützt als Eckpfeiler die Hütte, die andere streicht ihr Geäst windbefohlen entlang dem Dach und lauscht erwartungsfroh dem aufspielenden Pfeifen der Vögel entgegen. Das nervöse Hupen eines kleinen Kutters draußen vor der Bucht holt mich wieder in die Gegenwart zurück.

Links und rechts entlang des Gehsteigs türmt sich indessen mächtig das Geröll, und vermischt mit vertrocknetem und gestampftem Erdreich strebt es hoch zu den Villen, die prächtig herausgeputzt und doch so ärmlich darauf erstellt wurden. Auf Straßenhöhe finden sich die Garagen, von dieser Seite des Gebäudes her die einzige Zutrittsmöglichkeit zum Haus. Und von drinnen, rückseitig, steigt vermutlich der Lift hoch in den Wohn- und Aussichtsbereich. Der Briefkasten, groß und verziert, ist leer, denn die Zukunft wünscht es schnörkellos und einfältig elektronisch.

Doch dann öffnet sich glücklich die Straße und gibt den standhaft suchenden Blick wieder frei – und wieder ist es nichts als das beinahe Straucheln und Stolpern hinaus in eine geräuschlose, sterile Grünfläche für Golfer. Betreten verboten; die kurvenreich und zumindest in der aufsteigenden Perspektive malerisch angelegten Kieswege sind leer. Die kleine Holzbrücke auf halber Höhe – ein Blickfang. Wofür?

Jetzt tritt auch majestätisch und klar der vom grellen Abendlicht gereizte Pilatus ins hoffende Blickfeld. Es ist dann, als träfe man Jesus hoch oben auf des Berges Esel mit verschränkten Armen sitzend, wahrnehmend wie sein Auge in der weichen Strandung der Luzerner-, Meggener- und Vitznauerbucht sich weidet.  Gewiss ein Geschenk für ermüdete Augen und sich ausruhende Wanderer. Doch kann das nicht sein! Man wünscht sich ganz schnell für den Pilatus einen Hut, denn Jesus ist kein Vieh – auch nicht nur metaphorisch.

War ich vor dem Aufbruch und Gang in die erwachende Natur noch erwartungsfroh und zumindest kontemplativer Natur, versagt mir nun mein Mut, die Kraft geht verloren und ich schaue auf und sage: gestern erwachte der Frühling und bot mir wider Erwarten und entgegen aller Wünschbarkeit schauerliche Einblicke in eine nahende Gegenwärtigkeit des Abscheulichen, welches nichts mehr mit Natur gemein hat. Ist es bloß eine Trübung des Auges, Phänomen eines gequälten Bewusstseins oder der Alptraum nach der Guillotine? Nein, für dieses Mal stelle ich mich noch auf den bescheidenen Standpunkt einer zunehmenden Bewusstseins-Trübung.

Veröffentlicht von Proteus on fire

Freischaffender Feuilletonist

2 Kommentare zu „Bewusstseins-Trübung

  1. Hallo Proteus ich habe nicht ganz alles verstanden was Du da geschrieben hast. Doch ich würde Dir empfehlen wo anders spazieren zu gehen. Wenn ich Spazieren geh sehe ich die Emme die silbern glitzert im Sonnenlicht. Die Büsche die langsam anfangen auszutreiben. ich sehe die Huflattich die überall anfangen zu blühen. die Schneeglöcken in den Gärten. Ich spüre die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut die schon wieder ganz schön kraft hat. Aber vielleicht ist das eine Sache des Betrachtens liebe Grüsse Rita.

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    1. Du bist gütig mit deinen Ratschlägen. Ich war zu Besuch und konnte darum nicht im voraus abschätzen, was mich erwarten würde. Danke für deine Zeit und die Spazierbeschreibung der unbekümmerten Art.

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