Stoffel und Erni sind mittlerweile zu einem festen Bestandteil meines Alltaglebens geworden. An Tagen wo wir uns nicht zum Jassen oder zu einer Exkursion ins Freie verabredeten, telefonierten wir gegenseitig und blieben so auch während der wenig zumutbaren Zustände zu Lockdown-Zeiten auf Tuchfühlung. Wir erzählten uns von unserem Tag und von der Weise, wie wir unsere Umwelt, die Mitmenschen und das Geschehen in diesem zurzeit sehr bewegten und gleichzeitig auch bewegenden Dasein, soweit es uns persönlich im Inneren traf, zu deuten versuchten. Ich fühlte mich in der Nähe der beiden Freunde wohl und mir tat ihre Unbekümmertheit, Spontanität und Naivität gut.
Jeder von uns besass einen Laptop und gemeinsam hatten wir gelernt, wie man Videoanrufe mit Kopfhörer und Mikrofon am Bildschirm tätigt. Und so wurde es uns zwischenzeitlich auch möglich, regelmässig miteinander per Videokonferenz zu reden. Stoffel liebte diesen Konferenzstil. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wo er früher noch zum Telefonhörer oder Handy griffen hatte, meldete er sich heute nur noch über Videotelefonie. Erni und ich bekundeten einige Mühe mit seinem ungezähmten Umgang mit diesem neuen Kommunikationsmedium. Doch Stoffel liess sich davon nicht beeindrucken noch abhalten, uns damit immer wieder zu provozieren.
Erni war von den technischen Möglichkeiten eines Konferenzmeetings weit weniger begeistert, fügte sich aber kritiklos ins Gegebene und machte mit. Immerhin, und das sah auch er ein, bot sich so die Möglichkeit, miteinander zu sprechen. Den passenden Wein oder das helle Bier dazu musste sich indessen jeder selber besorgen.
«Wow Erni, siehst im Videochat ja noch älter und zerzauster aus, als in Natura,» frotzelte Stoffel durch den rauschenden und knackenden digitalen Äther und meinte mit leicht krächzender Stimme: «Nur gut für dich, dass das Bild nicht eben scharf ist. Also lass es lieber bleiben – ich will damit sagen: nein kauf ja keine neue Webcam. Das würde die Sachlage nur noch verschlimmern. Bei dir ist Hopfen und Malz verloren.» «Und du klingst durch Mikrophon und elektronische Ohrenschale wie eine alte zerzauste Krähe», konterte Erni: «Und zudem bist du auch nicht grade die Schönheitsqueen vom Square, die du wohl gerne darstellen möchtest. Besser du nimmst das Poster von Tina Turner da hinter dir schnell wieder von der Wand, oder wechselst den Standort, dann fällt weniger ins Gewicht, wie zerknittert und unköniglich du dich im Vergleich zu ihr ausnimmst. Ich wette, die Dame ist älter als du und doch um Welten attraktiver.»
«Muss das wirklich jedes Mal sein, Jungs,» fragte ich mit leicht gespielter Verzweiflung: «Müsst ihr euch denn dauernd in den Haaren liegen, wo bei euch ohnehin kaum mehr welche zu finden sind?» «Jetzt schau dir bloss diesen lümmligen Gefühlsdusel an, Erni, ich glaube der möchte uns umarmen,» stichelte Stoffel. «Lass ihn,» warf Erni ein, «für das Vögelchen sind wir eben wie Eltern. Und Kinder mögen es nicht, wenn sich die Eltern eben mal fetzen.» «Da geb ich dir recht, Erni, lassen wir den Kleinen in Ruh, damit seine Seele keinen Schaden nimmt. Schliesslich wollen wir ja nicht für seine verkorkste Kindheit die Hauptschuld tragen.»
Ich musste lachen. Diese Keiferei gehört wohl schon fast mit zum Begrüssungsritual, dachte ich mir, als Stoffel auch schon überraschend seine Stimme eine Terz erhöhte und die Lautstärke verdoppelte und aufgeregt zu sprechen begann: «Ihr glaubt nicht, was ich gefunden habe, als ich in den Estrich stieg, um auszumisten und aufzuräumen.» «Bestimmt eine tote Ratte, die dumm genug war, kopfüber in eine von deinen ausgelegten Mausefallen zu geraten,» antwortete Erni kichernd. «Ja klar, eine Ratte, du hast recht, Miesepeter, aber lass mich jetzt erzählen.»
Stoffel war nicht mehr abzulenken: «Ich habe in einer verstaubten Kiste in der Ecke einen Ordner voller Seiten gefunden, die wohl noch aus einer Zeit stammen, als man noch mit alten Schreibmaschinen herumhantierte. Neugierig wie ich bin, ihr kennt mich ja, fing ich an, darin etwas zu schmökern. Es handelte sich dabei wohl um so etwas wie private Tagebucheinträge.» «Du weisst nicht von wem,» fragte ich interessiert. «Keine Spur,» antwortete Stoffel: «da findet sich nirgends ein Name. Meine Söhne können es nicht gewesen sein, die haben meines Wissen nie Tagebuch geschrieben.»
«Verrätst du uns nun auch noch, was in diesem geheimnisvollen Tagebuch steht, oder was sonst es ist, das dich in solch krankmachende Aufregung versetzt. Sei bloss vorsichtig, das erhöht nur deinen Blutdruck und belastet dein Humpelherz,» keifte Erni etwas ungeduldig. «Bedenke, wir sind nicht mehr die Jüngsten, der Teufel könnte uns holen, noch bevor du damit rausrückst – was doch schade wäre, wenn deine Entdeckung wirklich so spannend ist.» «Schweig jetzt, ich les es euch gleich vor,» versprach Stoffel. «Behüte,» schrie Erni, dass sich seine Stimme in meinem Laptoplautsprecher überschlug und tönte, wie die sich einschwenkende Bewegung einer rostigen Türe. «Willst du uns in den Schlaf reden,» war krachend und knatternd in Sprachfetzen gerade noch zu verstehen. «Schweig jetzt einfach und hör zu, ich beschränke mich auch auf ganz wenige Sätze. Beim ersten handle es sich um eine Art Aphorismus zum Thema Führerschaft, eröffnete uns Stoffel leicht aufgeregt.
Ein Ratschlag an Führernaturen: Nimm den Menschen etwas weg, das sie lieben, und sie werden, einmal hungrig danach, zu einer Horde reissender Wölfe. Gib den Menschen hingegen etwas, das sie mögen, und schon sie umschmiegen sie dich mit ihren kalten Leibern und züngeln nach dir, bis du kurz vor dem Erstickungstod stehst. Holst du aber die Menschen, jeden gesondert für sich, dort ab, wo er oder sie im Augenblick steht, dann stiegen sie alle freiwillig in deinen Bus, sofern du ein Ziel anbietest, das an ihrem Weg liegt und vorausgesetzt, die Fahrt ist kostenlos. Der Preis, wie hinlänglich bekannt, sei schliesslich immer auch Teil der demokratischen Argumentation.
«Klingt seltsam,» versuchte ich zaghaft zu kommentieren, verstand aber ebenso wenig davon, wie offenkundig auch Erni, der brüskiert fragte, was an dem Text so sensationell sein soll. Vermutlich sei das Entscheidendes von ihm überhört worden. Und nach einer kurzen Kunstpause: «Jetzt begreife ich es,» lachte Erni laut auf, «du bist so aufgeregt, weil du etwas in deinem Esterich gefunden hast, dass darauf hindeutet, es könnte in deiner Sippschaft jemanden gegeben haben, der doch tatsächlich etwas Grips im Kopf hatte.» «Bin froh, dass Rick nicht ganz so doof ist wie du», ereiferte sich Stoffel leicht gereizt. Das Thema sei doch höchst brisant. In den Staaten seien doch eben die Wahlen abgeschlossen und der neue Präsident und Führer der Nation bestimmt worden.
«Ja schon,» antwortete ich etwas gedehnt. «Aber was,» wandte sich Stoffel fragend an mich. «Nun ich sehe den Zusammenhang des Vorgelesenen nicht zu den US-Wahlen, und ich weiss auch nicht, weshalb ich mir zum gegebenen Zeitpunkt über Führerschaft Gedanken machen sollte.» Nichts läge mir im Moment ferner. «Warum wohl! Führer hat es doch immer schon gegeben,» rechtfertigte sich Stoffel, «und die meisten von Ihnen sind und waren nicht eben die Aufsteller und Gemütsaufheller.» «Soso, Hitler war für dich also bloss ein verhinderter Aufsteller,» wollte Erni wissen. «Ist ja gut du Dusel, hab es begriffen. Lasst mich doch lieber noch ein paar Zeilen mehr vorlesen,» bat Stoffel. Wir zeigten gönnerhaft Verständnis, übten uns in Geduld und hörten dann weiter zu.
Der wahre Führer nimmt den enttäuschten, weil getäuschten Menschen die Illusionen und zeigt ihnen vorsichtig auf, wie man sie bisher hinters Licht geführt hat, mit welchen falschen Versprechen man sie auf die Spur bringen wollte und so für fremde Zwecke missbrauchte. Er gibt ihnen damit die Freiheit zurück, das Bewusstsein um ihre Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Hinterher muss er sie vielleicht selbstlos in eine neue Welt einführen, an die sie glauben können und die es wert ist, dass darum gekämpft wird. Hier beginnt dann zweifellos seine Hauptarbeit.
«Wenn du uns da bloss nicht mit deinen Estrichratten verwechselst,» mahnte ich den Stoffel. «Ich wäre dir beinahe auf den Leim gekrochen – doch den Blödsinn nehme ich dir nicht ab. Gib es zu, du willst bloss nicht gradestehen dafür, dass du diesen Text in höchst eigener Person verfasst hast. Und darum verkaufst du ihn uns als Trouvaille.» Er sehe die Relevanz dieser Tippserei zur Gegenwart auch nicht, brummte Erni etwas unwirsch. Er, Stoffel, habe in jüngster Zeit wohl zu viel in der Revolutionsliteratur geschmökert und dabei nicht viel verstanden. Er müsse passen, er habe nicht die Geduld, sich über gute Führerschaft Gedanken zu machen. Heute gebe es ja nur noch Möchtegerne, Könne- und Taugenichtse in den Führungsetagen – bestenfalls geschulte Schauspieler und gekaufte Verführer. Der Joe aus den Staaten sei da auch keine Ausnahme.
Das Leben an sich biete keinen hinreichenden Sinn, hob ich an. Wir seien es, die unserem Leben Substanz verleihen. Und so viele Menschen wie diese Erde beherberge, so viele Bedeutungsvarianten seien gegebenenfalls im Umlauf. Was dem einen schwarz erscheine, lache den nächsten weiss an. Doch deswegen gleich eine Partei zu gründen und einen Führer zu wählen, das fände ich leicht übertrieben. Wir sollten uns lieber dahingehend anstrengen, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und uns gegenseitig in Rücksicht zu üben. «Hört sich vielversprechend an,» wandte sich Erni an mich, «bitte, fahr fort.»
«Gut dass uns keiner beim Reden hört,» meinte Stoffel sich dazwischendrängend. Wenn meine Frau das hören würde, dann hätte sie gesagt: «Ach ihr Männer, müsst immer alles kritisieren und hinterfragen, selbst wenn es funktioniert. Und dabei versucht ihr jeden vom Sockel zu stürzen, der euch etwas voraushat. Es geht uns doch besser denn je, wozu also alles schlechtreden.» «Hab es mir immer schon gedacht, dass deine Frau den Verstand in die Ehe gebracht hat,» spottete Erni. «Nett von ihr, dass sie wenigstens etwas davon an dich weiter zu geben vermochte.»
Da rief Stoffel lauthals lachend dem Erni zu: «Hei pass auf, Junge, halte dich fest, bist eben aus dem Bildschirmrahmen gefallen. Hast wohl den Durchblick verloren.» So ein Quatsch, nicht er sei gefallen, die Webcam habe sich aus der Verankerung gelöst und sei scheppernd hinter der Abdeckung des Laptops verschwunden.
«Bist wohl auch einer von denen, die Kuchen bei der Bildschirmarbeit essen,» fragte ich Erni. «Hinter deinem Bildschirm sehe ich ganze Krümelhaufen von Zitronenkuchen herumliegen.» Woher und wie ich das mit dem Zitronenkuchen herausgefunden hätte. Das sehe man den Krümeln bestimmt nicht an. «Stimmt, aber letztens im Restaurant vor dem zweiten Lockdown hast du die Wirtin voller Gier gefragt, ob sie ein Stück Zitronencake anzubieten habe. Daraus schloss ich, dass das wohl dein Lieblingsgebäck ist,» antwortete ich ihm.
Aber er könne auch andersrum. «Wenn ihr mein aus dem Bild fallen partout metaphorisch verwenden wollt, dann kehren wir die Sache eben um. Um eine friedvolle und paradiesische Welt zu schaffen, in der es sich wieder lohnt, zu leben, muss man nicht bei der Natur des Führers anfangen. Auch Regierungsformen haben da keine Priorität. Anfangen muss man bei der Erziehung des Menschen,» ereiferte sich Erni immer entschiedener. Egal was ein Mensch von Beruf sei oder was er denke, entscheidend sei eine jungfräuliche, noch unversehrte Seele, welche aus jedem Menschen ein friedvolles, empathisches, glückliches und zufriedenes Wesen mache. «Hört, hört, der Herr Altlehrer hat gesprochen. Machst deinem alten Beruf alle Ehre,» meinte Stoffel anerkennend, wohl froh darüber, dass wir vergessen hatten, dass auch er mit seinem kleinen Betrug betreffs Autorschaft des von ihm vorgetragenen Textes aus dem Rahmen gefallen sei.