
«Rick, Rick, halt, so bleib doch stehen, nicht so schnell,» ertönte eine heisere Stimme, offenkundig im Aufruhr, hinter mir. Ich erkannte darin mit Vergnügen Stoffels Bariton. Ich befand mich eben auf dem Weg zur Apotheke, welche glücklicherweise von den Massnahmen ausgeschlossen blieb und ihre Tore für das Corona gebeutelte Volk noch geöffnet hielt, während alles andere in dem fast menschenleeren Dorfkern vergittert, verbarrikadiert und verplakatiert worden war. Wie zu alten Tagen, als das Leben noch in ruhigeren Bahnen seinen Kurs verfolgte, dachte ich still bei mir.
«Ja klar, Stoffel, wo brennt es,» rief ich zurück, drehte mich um und blieb stehen. Stoffel führte den etwas unsicher auf dem verschneiten Gehsteig laufenden Erni im Schlepptau mit sich. «Schön euch zu treffen, aber sagt, wohin seid denn ihr bei Eis und Schnee noch unterwegs? Ist euch der Wein zu Hause ausgegangen,» fragte ich interessiert. «Sei unser Kameltreiber im wilden Kurdistan,» keuchte Stoffel etwas ausser Atem, «und führe uns schnell in die nächst gelegene warme Oase.» «Käme dem Verlangen gerne entgegen, aber lasst mich zuerst noch die Apotheke aufsuchen. Ich brauche dringend ein wirksames Schmerzmittel für mein entzündetes Knie. Treffen wir uns hinterher im Ochsen?» «Abgemacht!» bekräftigte Stoffel.
«Noch so gerne, au fein,» doppelte Erni nach. Gab dann aber umsichtig zu bedenken: «Ihr glaubt wohl, nur weil ich schlecht zu Fuss bin, dass auch mein Kopf hinkt. Jetzt habe ich euch, ihr Kamele. Wisst ihr es immer noch nicht? Die Beizen sind doch alle geschlossen.» «Klar, wir wollten ja auch bloss testen, ob du das weisst. Aber wo er recht hat,» wandte ich mich mit bedauerndem Schulterzucken an Stoffel. Dann werde wohl nichts aus einem gemütlichen Zusammensein. «Ich mache euch ein Angebot,» trat Erni dazwischen: «Wir treffen uns in 20 Minuten bei mir zuhause zu einem Gläschen Roten.» «Cool, bis in einigen Minuten also» und schon hatte ich die Strasse überquert und verschwand in Richtung Apotheke.
Als ich später bei Ernis Haus anlangte, sah ich die beiden Freunde in Begleitung eines jüngeren Mannes, den ich nicht kannte. «Komm her,» winkte man mir einladend zu. «Schnell, du verpasst sonst noch was,» warf sich Erni gewichtig in Pose. «Wir haben zusammen mit Berni, unserem Pastoralassistenten der Kirchgemeinde soeben beschlossen, für heute Nachmittag gemeinsam und feierlich den Glaubenspfad zu beschreiten und uns im beheizten Wohnzimmer in Klausur zu begeben, wo wir gemütlich über Kain und Abel diskutieren wollen.» Berni lachte mir freundlich entgegen und begrüsste mich mit einem kräftigen Händedruck, was mich etwas überraschte. Ein freundliches Lachen und ein fester Händedruck genügten zwar für den Anfang, seien aber nicht genug, um mich für den nächsten Gottesdienstbesuch zu gewinnen, warnte ich den Herrn Assistenten mit scherzhaftem Unterton.
Berni war, wie sich nachgerade herausstellte, ein ehemaliger Schüler von Erni, und gefiel mir gleich auf den ersten Blick, er schien sympathisch. «Nur nicht so misstrauisch,» antwortete der selbstbewusste junge Mann gelassen. Er heisse übrigens bei ungekürztem Namen Bernhard, stellte er sich mir vor – aber Berni sei ihm auch recht. «Angenehm, Rick,» stellte ich mich ihm vor. Wir gaben uns ohne Zögern einen zweiten distanzlosen Händedruck. Er habe wohl auch keinen Respekt vor dem Virus, fragte ich ihn. Berni lachte und meinte: «Gott geht mit den Gläubigen. Doch behalte das lieber für dich. Wir machen uns sonst noch einen schlechten Ruf. Er wenigstens könne sich das als Mann der Kirche nicht erlauben.» Das wundere mich nun gar nicht, etwas Zuversicht und Vertrauen dürfe man von einem fest im Glauben verankerten Menschen erwarten. Um mich aber brauche er sich keine Sorgen zu machen. Mit meinem Ruf stehe es ohnehin nicht zum Besten. «Nichts, was man mit einem innigen Gebet, nicht wieder in Ordnung bringen könnte,» gab mein Gegenüber verschmitzt zurück. «Was haben die beiden alten Sünder denn ausgefressen,» fragte ich indessen interessiert, «dass man sie auf den Glaubenspfad schicken muss?» Wenn er aufrichtig bleibe, dann laute die Antwort, nichts. Er müsse sich eingestehen, dass ihn ausschliesslich die Aussicht auf einen gemütlichen Nachmittag in angenehmer Gesprächsrunde gereizt habe. Dazu sei ihm jeder Vorwand recht, um die Gelegenheit am Schopf zu packen.
Er habe die beiden vorbildlichen Kirchgänger eben erst hier am Gartentor streitend vorgefunden. «Nur streitend,» fragte ich enttäuscht. Das sei doch nichts Aussergewöhnliches bei den beiden. «Stimmt,» bekräftigte Berni meine Ansicht. «Ich sehe, du bist ein profunder Kenner der beiden verlorenen Seelen,» schloss er mit einem kleinen Seitenhieb an die Adresse meiner Freunde. «Aber keine Regel ohne Ausnahme,» am aktuellen Streitthema gebe es diesmal nichts Anrühriges, wofür sie verdienten, drei Vaterunser zu beten. Berni lachte.
Da sei ich aber froh, das zu vernehmen. Obwohl die Beiden sicherlich treue Kirchgänger sein mögen, fehle es ihnen entschieden am notwendigen Durchhaltewillen, so dass die Sorge um ihr Seelenheil durchaus berechtigt sei. «Wer nicht von uns allen,» fragte Berni gewieft zurück. Ah, jetzt folge wohl der elende Spruch von dem, der es wage, den ersten Stein zu werfen, fragte ich gespielt empört. «Nein wirklich, wir tun den Beiden unrecht,» erläuterte Berni. «Der Punkt ist, dass ich sie beim Streitgespräch über eine Geschichte aus dem Alten Testament angetroffen habe.» «Welche Geschichte,» fragte ich nun doch neugierig geworden. «Die von Kain und Abel – die Erzählung vom zweiten Sündenfall, gleich nach demjenigen, der sich im paradiesischen Garten abgespielt hat.» «Ok, jetzt wird es auch aus meiner Sicht spannend,» antwortete ich. «Ich schlage vor, wir begeben uns nun ohne weiteres Zögern in die Wohnzimmerklausur.»
«Ich kann es nicht glauben, was sich da eben vor uns abgespielt hat», wandte sich Erni gespielt verärgert an Stoffel. «Hast du das mit deinem trägen und von Corona geschädigten Verstand mitbekommen, was die beiden da lästerlich über uns verbreitet haben.» «Hab es verpasst,» brummte der Angesprochene. So lästerlich könne es gar nicht gewesen sein, er sei sich schliesslich keiner persönlichen Mäkel bewusst. Wir mussten lachen und Erni klopfte ihm zustimmend auf die linke Schulter. «Dann lasst uns jetzt endlich hineingehen,» bevor der Nachmittag um ist.
«Ja lass uns das Unvermeidliche tun,» bekräftigte ich den Hausherrn: «Wir alle wissen schliesslich um deine Schwäche für süsse, vollmundige rote Weine.» «Wow, Erni hast du das gehört und kapierst du es endlich, das sind keine Freunde. Das sind lediglich zwei armselige Schnorrer, die dir für ein Gläschen Roten das Blaue vom Himmel herunterbeschwören,» klärte Stoffel den Erni auf. «Berni, aber wirklich, so nicht, schäme dich, du solltest doch wissen, dass die Zeiten der schändlichen Sündenablässe vorbei sind,» hakte Erni verständig nach. Man lebe schliesslich nicht mehr in der Renaissance, wo für gutes Geld der Himmel gekauft werden konnte, wo man den Teufel mit Gold zu beschwichtigen vermochte und die Sünden in fromme Hände ablegen durfte. Der gute Luther habe daran Anstoss genommen und damit seinen Kreuzzug gegen den Katholizismus angetreten. Und Berni wolle sicher nicht Anlass und Ausgangspunkt für eine nächste Kirchenrevolte darstellen. Eine neue Reformation, das halte der Vatikan nicht noch einmal durch.
«Aber ungeachtet dessen, wo wir nun schon mal in der Stube angekommen und uns hin gesetzt haben, wollen Stoffel und ich euch vergeben, wenn wir nun ein gutes Gespräch in Angriff nehmen.» Erni holte die Gläser aus der Küche. Bei seiner Rückkehr meinte er aufmunternd: «Hilf uns, Berni, erörtere uns die Grundlagen der alttestamentarischen Geschichte von Kain und Abel. Zeig uns, was das Studium der Theologie bei dir bewirkt hat. Warst ja schon als Schüler ein aufgewecktes Bürschchen. Und wenn du gar gelernt hast, Wasser in Wein zu verwandeln, dann nur zu, lass dich nicht abhalten, dann sind wir ganz sicher die Letzten, die auf eine Kostprobe dieses Gesöffs verzichten würden. Also wohl an, wir sind ganz Ohr, unser Interesse ist dir gewiss.»
«Spitzfindig und ironisch wie immer», antwortete Berni: «Die Einladung nehme ich gerne an, und folge dem Wunsch. Aber ich will sicherstellen, dass ihr euch aktiv an der Kains Exegese mitbeteiligt.» «Kains Exgüsi (schweizerdeutsch für entschuldige), was? Ich höre wohl nicht mehr besonders gut, Berni,» fuhr Stoffel fragend dazwischen. «Nicht exgüsi, Exegese heisst das Wort und es bedeutet Auslegung, Interpretation,» erklärte Berni belustigt. Er hole nun noch schnell den Wein, mit den Gläsern allein sei gewiss keinem gedient, erklärte Ernie, «du Berni sorgst dich um eine hinreichende Exegese und die beiden da sollen still sitzen und Esel in Grau spielen, die haben eh nichts zu sagen.» Damit entfernte er sich nochmals kurz, und kam dann mit zwei Flaschen zurück.
Was er noch fragen wolle, wandte sich Stoffel an Berni: «Hast du keine Angst vor Corona. Gehst mit uns drei Unmaskierten in die warme Stube und scheinst dich nicht zu kümmern noch zu ängstigen.» «Ich habe das draussen vor der Tür Rick schon erklärt: Gott ist der Schöpfer allen Lebens, auch der Viren. Und wenn es ihm gefalle, dass er an einem Virus sterben müsse, dann sei das eben so.» Dann sei er ja ein Corona Leugner. «Ja, und du bist wohl nun froh, darin nicht der einzige zu sein,» antworte Berni. «Touche!»
Alsbald sassen wir vergnügt um den runden Tisch bei Brot Käse und Salami und warfen uns angeregt unterhaltend in die dunklen Alltagsmysterien und in die Geschichte um Kain und Abel. Ich wandte mich interessiert an Bernie, ob er gegebenenfalls ein politisch interessierter Mensch sei und sich die lächerlich wirkende Inaugurationsfeier des neuen Präsidenten der USA angesehen habe. «Absolut lächerliches Schauspiel indeed,» liess der erstaunliche Kirchenmann verlautbaren. «Das war eine hervorragend inszenierte Show, ausschliesslich für die Kameralinse gedacht.» «Ja. Es glich einem langweiligen und rührseligen Puppenspiel,» kommentierte Erni. Man habe ja kaum Menschen gesehen, da waren nur die 25000 Soldaten, die man zu dem Marionettentreffen aufgeboten hatte. «Muppetshow, kann ich da nur beipflichtend hinzufügen,» kommentierte auch Stoffel. «Von wegen Soldaten,» mischte ich mich ein, «da war mir von Anfang weg nicht ganz klar, ob die nun die Politiker vor der bösen Aussenwelt beschützen sollten, oder ob sie nicht eher die Aussenwelt vor den Politikern schützten.» Die Show sei irgendwie noch nicht vorbei, pflichtete Erni bei. Die Soldaten biwakierten noch immer in Tiefgaragen und anderen unwirtlichen Plätzen rund ums Kapitol. In Washington DC gingen wohl die Terroristen um.
«Was glaubst du, wer von den beiden, Trump oder Biden, ist nun der Kain und wer Abel,» wandte ich mich an Erni. Das hänge wohl etwas von der Perspektive ab, meinte dieser zögerlich. Ich sei dafür, dass Biden der Böse, also der Kain sei. Trump, das sei der gottesfürchtige und opferbereite Abel: Biden hingegen stehe für den biblischen Schlächter.
Berni griff den Gedanken auf und folgerte fragend: «Dann stürzt Kain den naiven Abel also mit Hilfe dämonischer Kräfte, den Demokraten und einer gefälschten Wahlmaschinerie vom Thron. Genauso gut kann man aber argumentieren, der schlaue Trump, in der Rolle des Kain, macht sich absichtlich klein und lässt die Dems (Demokraten) im Glauben, dass er besiegt ist, während er in der Hinterhand mit seiner Siegerkarte lauert, um das Spiel des korrupten Bidens zu entlarven.» «Eine beinahe göttliche Geschichte und erst noch biblischen Ausmasses,» spottete Erni. Wir brachen in schallendes Gelächter aus. Wir? Wir alle ausser Stoffel, um das richtig zu stellen. Denn dieser ärgerte sich. Er verstehe nicht, wovon hier gesprochen werde und was dabei so lustig sei. Er sei wohl wirklich der Esel in Grau. Er fühle sich in dieser Runde ausgeschlossen.
«Auf unserem Weg hierher zu dir, Erni, haben wir ausschliesslich über die Geschichte von Kain und Abel gesprochen. Und du magst dich erinnern oder nicht, ich wollte von dir wissen, ob du eine Idee hast, warum die Geschichte um Kain und Abel gleich nach der Geschichte vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies folgt,» erinnerte Stoffel den Erni an den Ausgangspunkt ihrer Debatte. Da sei ihnen glücklicherweise Berni begegnet, der sich eben anschicken wollte, uns den Sachverhalt im richtigen Licht darzustellen, er darin aber gehindert wurde, weil sich gleichzeitig Rick zu uns gesellte. «Ach Stoffel, du ewiger Quengler, begreif es doch endlich, wir wollen hier unseren Spass haben und ein gutes Glas Roten geniessen. Ihm, Erni stehe der Sinn grad nicht nach Bibelkunde.
«Nun dann kann ich ja getrost gehen,» antwortete Stoffel beleidigt und schickte sich an, aufzustehen, um die Runde zu verlassen. Berni beeilte sich, schlichtend dazwischen zu treten und bat Stoffel, sich wieder hinzusetzen. Die Bedeutung um die Geschichte von Kain und Abel könne man zur Not in aller Kürze darlegen, «damit Erni nicht den Eindruck gewinnt, dass er sich hier in eine Seniorenbibelstunde verirrt hat.» Es sei nun gar nicht notwendig, dass der junge und bestimmt talentierte Herr Berni sich auch noch über sein Alter lustig mache.
Ich war froh, dass Berni versuchte, die Situation zu beruhigen, spürte aber auch, dass zwischen Stoffel und Erni der Haussegen irgendwie schief stand und Stoffel keineswegs auf einem kompromissbereiten Pfad einherschritt. «Hei Stoffel, lass gut sein, Berni wollte dich mit Sicherheit nicht kränken», versuchte nun auch ich den enervierten Freund zu beschwichtigen.
Was genau nun den Ausschlag gab, dass Stoffel es sich nochmals anders überlegte und wieder seinen Platz am Tisch einnahm, weiss keiner. Alte Männer sind manchmal etwas eigen, redete ich mir ein. Glücklicherweise schien Stoffel sich wirklich zu beruhigen und einlenkend forderte er Berni höflich auf: «Ja, lass hören, was es aus dem Hinterhof der ersten Menschen zu berichten gibt.» Die Bemerkung besitze durchaus ihre Richtigkeit. Kain und Abel seien ja bekanntlich die Söhne von Adam und Eva. Und auf Grund deren Vertreibung aus dem Paradies könne man mit einiger Süffisanz davon ausgehen, dass hier der Kern der Schuldgeschichte von uns Menschen stecke, von der das Neue Testament mit der Kreuzigungsgeschichte uns Erlösung verspreche. Der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies hätten die Zwietracht unter uns Menschen gebracht.
Dann sei das ein abgekartetes Spiel zwischen Gott und dem Teufel gewesen. Er akzeptiere die Schuld nicht, ereiferte sich Erni. Der Mensch sei zwar das Abbild von Gott, was aber nicht bedeute, dass er über gottesähnliche Kräfte verfüge. Wenn Gott und der gefallene Engel also etwas inszenierten, die Geschichte vom Baum der Weisheit eben, dann könne man den Menschen keinen Vorwurf machen, wenn sie bei dieser Prüfung durchfielen.
Das sei ein wichtiger Gedanke, meinte Berni. Viele Menschen der Neuzeit seien nicht bereit, ein Leben im Gedanken an die Erbsünde zu führen. Der biblische Kontext baue zwar auf diesem Schuldgedanken auf und halte auch heute noch daran fest, es sei aber durchaus beachtenswert, dass Gott zwar forderte, dass Kain die Familie verlassen musste, er ihn aber gleichzeitig mit einem doppeldeutigen Mal kennzeichnete. Das Mal warnte die Menschen vor Kain, der ein Brudermörder sei, gleichzeitig wohnte demselben Mal aber jene Macht inne, die den Schuldigen vor den rachsüchtigen Nachstellungen der Andern schützte.
«Wow Erni, ich habe gar nicht gewusst, dass du so andächtig zuzuhören vermagst,» triezte ich mein gegenüber. Stoffel lachte und meinte: «Ja, das passiert eben, wenn man dem Erni ein nettes Märchen erzählt.» Erni sei zwar vieles, sicher aber kein Dummkopf. Ob er denn wirklich glaube, dass die Bibel ein Märchenbuch sei wollte Berni von Stoffel in Erfahrung bringen. Ja das glaube er. «Ja richtig, das glaube ich auch,» stellte sich Erni hinter den Stoffel. «Nun glücklicherweise kann man über den Wert der Heiligen Schrift nicht demokratisch abstimmen lassen,» spottete Bernie, sonst wäre das ja, wie man an den USA Wahlen sehe, ein Leichtes, zu mogeln. «Ach lasst doch mal die USA beiseite,» warf ich dazwischen. Die ginge uns doch gar nichts an. Ob da gemogelt worden sei oder nicht, könne uns doch egal sein.
Unser Problem, nahm ich den Gesprächsfaden wieder auf, bestehe offensichtlich darin, zu klären, wie unsere Vorfahren auf die seltsame Idee kamen, menschliches Leben sei von Anbeginn weg schuldig. «Deine Schuldfrage ist schnell geklärt,» platzte Stoffel dazwischen: «Du horchst fremden Leuten bei ihren Gesprächen zu und lümmelst dich hinterher dann schuldbewusst zu ihnen,» erinnerte mich Stoffel daran, wie wir uns vor einiger Zeit zufällig an der Bushaltestelle kennenlernten. Erni pflichtete ihm schmunzelnd bei. «Heisst das jetzt, dass ich mich vom Acker machen soll,» fragte ich betroffen. «Ach quatsch doch noch dümmeres Zeug,» wies mich Stoffel zurecht. Es sei alles gut wie es ist.
Gut dann versuche ich euch jetzt dazulegen, wie ich die Schuldfrage verstehe. Biblisch gesehen seien die Menschen ja in der Blutlinie von Adam und Eva und ihrem dritten Sohn Seth entstanden. Weil Eva der Versuchung nicht widerstehen konnte, wurden dennoch Beide aus dem Paradies geworfen. Will sagen, egal ob Frau oder Mann, die Geschlechter gehören zusammen. Es gebe keine Geschlechterungleichheit. Wenn Kain den Abel zu Tode schlage, ein Bruder den Anderen, dann deutet das auf dasselbe Prinzip hin. Sie seien Brüder in Gott wie wir andern auch. Wer einem anderen ein Leid zufüge, vergehe sich an der Menschheit und an sich selber. Schuld entstehe erst, wenn ein Mensch sich an einem andern vergehe.
«Schön gesprochen», meinte Berni. «Du vergisst aber, dass sich Adam und Eva an ihrem Schöpfer vergangen haben und wir Menschen darum schuldig vor Gott sind.» Nicht die Frau sei schuld, das wolle er mir gerne bestätigen. Wir Menschen seien schuldig. «Puuh, soviel Schuld», stöhnte Stoffel, das mache ihn ganz durstig und er sehe da lauter leere Gläser vor sich auf dem Tisch. «Erni, auf du alter Geizkragen, hole uns noch eine Flasche von dem süssen Gesöff.»
Bevor sich Erni anschickte, zu tun, wozu er geheissen wurde, entschuldigte sich Berni und bedauerte, dass er nun gehen müsse. Sein Tagwerk sei noch nicht getan. Die Gesprächsrunde habe ihn auf die Idee für einen nächsten Gottesdiensttext gebracht. Die wolle er nun zu Blatt bringen, bevor die guten Ideen wieder weggeflogen seien. Das brachte auch mich auf den Plan und ich bedankte mich für den tollen Nachmittag und die Gastfreundschaft Ernis. Ich wolle mich Berni anschliessen und selber auch nach Hause gehen. «Nun gut, Erni, dann lass bleiben, dann gehe ich eben auch,» meinte Stoffel. Sei ja ohnehin bald Zeit, diese Corona widrige Versammlung aufzulösen, bevor wir noch denunziert würden. «Dein Nachbar, der Josef, hat uns sicher gemeinsam ins Haus gehen sehen. Dem traue ich zu, dass er uns verpfeift.» «Red kein Blödsinn,» erklärte Erni, «der Josef ist ganz in Ordnung, der ist höchstens eifersüchtig, dass wir ihn nicht auch zur Gesprächsrunde eingeladen haben.»
Wunderbar! Und doch auch wieder so realistisch! Super Schluss, wie sich der Gottesmann zurückzieht! Freu mich schon auf die nächste Geschichte.
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Danke für die freundliche Aufnahme des Textes, der mich mehr Mühe gekostet hat als viele andere vor ihm.
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