Stoffel und Erni hadern mit dem Tod

Wo die Vielfalt des Lebens sich trifft: Himmel, Erde, Meer, Friedhof Camping und ein grosser Gemüsegarten.

Nachdem wir drei Käuze das letzte Mal in Joe’s Bar beschimpft wurden, einigten wir uns telefonisch für ein neuerliches Treffen auf den Bären. Da gebe es weiche Sitzbänke mit Kissenbezügen. Die ideale Entourage für drei alte Männer, um bequem eine nächste Jassrunde zu starten. Erni hatte sich im Nachspiel zum letzten Treffen ziemlich geärgert und schien auch jetzt noch am Telefon verschnupft über die dämliche Anmacherei, die uns bei Joe’s widerfuhr. Stoffel und ich versuchten Erni etwas zu beschwichtigen. «Hast dich doch dort grossartig geschlagen,» bestärkte ihn Stoffel. «Hattest den Mut, in die Tür zu stehen und die Bande zu verarschen,» alle Achtung dafür, erwies auch ich ihm den gebührenden Respekt. «Lasst gut sein, ich danke euch,» antwortete Erni.

«Treffen wir uns übermorgen zum Jass also im Bären,» schloss er, und zu mir gesprochen ergänzte er, «Vergiss ja nicht genug Kohle mitzubringen, da wir diesmal einen Coiffeur (umgangssprachlich für ein bestimmte Jassart) klopfen, das wird dich dann so richtig Kohle kosten.» «Warum denn erst übermorgen,» fragte Stoffel verwundert, «warum nicht morgen? Gibt es, ohne dass ich es wüsste, etwas gegen Bier am Mittwoch einzuwenden? Ist das etwa eine neue Corona-Zwangsmassnahme, die ich verpasst habe?»

«Hast wohl in einem Anfall von Demenz bereits vergessen, dass wir den Alois morgen zu Grabe tragen,» erklärte Erni mit vorwurfsvoller Stimme. Das war dem Stoffel nun peinlich und liess die Stichelei unbeantwortet, denn der Alois hatte zwar nicht den gleichen Jahrgang, aber auch er war ein guter Bekannter von ihm gewesen. Sein Tod berührte auch ihn. «Ehrensache dass ich dich zum Begräbnis begleite,» versprach Stoffel dem Erni. So kam es, dass wir uns erst für Donnerstag zur nächsten Jassrunde verabredeten.

Irgendwie traf es sich rein zufällig, dass wir am Donnerstag zeitgleich am Eingang des Bären eintrafen. «Jungs, wir sollten uns bei der nächsten Olympiade 2021 in Tokio für den Synchronschwimm-Wettbewerb  eintragen lassen. Wir hätten da wohl gute Aussichten auf einen vorderen Rang,» schloss er ironisch. Er wisse aber schon, dass dieser Wettbewerb ausschliesslich den Mädels vorbehalten sei, wies ich ihn zurecht. «Synchron… was?», schaltete sich Erni neugierig dazwischen. «Tölpel,» hob  Stoffel gewohnt lästernd an: «da schwimmt man im Wasserbecken schöne Figuren und das möglichst zeitgleich, eben synchron und macht einen Unterwasser Handstand.» Jetzt lachte Erni laut heraus: «Ich stelle mir grad vor, wie wir vierschrötigen Bäuchlinge in bunten Shorts händchenhaltend im Schwimmbecken verzückt Ringelreihe tanzen, verfolgt von den staunenden Blicken der holden Weiblichkeit.» Wir stimmten herzhaft in das Lachen ein: «Wahrlich ein göttliches Bild», kommentierte Stoffel: «Fast so gut wie Kaffee und Kuchen.»

Da die Sonne schien und ich trotz der Abmachung wenig Lust auf einen Jass verspürte, schlug ich den beiden vor, einen kleineren Spaziergang in die nähere Umgebung zu unternehmen. Ich war erstaunt, dass beide sich bereitwillig einverstanden erklärten. «Da ist dir jetzt gelungen, mich masslos zu überraschen,» wandte ich mich an Stoffel. «Lass gut sein, Grünschnabel, man muss nach gestern doch ganz froh sein, wenn man beweglich ist und noch keinen Aschestaub an den Füssen trägt,» erklärte Stoffel. Er sei ganz zufrieden, dass man ihn noch nicht mit den Füssen voran aus dem Haus zum Friedhof tragen müsse. «Ja, war wirklich kein erbauliches Erlebnis – gestern auf dem Friedhof. Einen Gottesdienst gab es nicht und wir waren die einzigen Trauergäste an der Urnenbestattung,» endete Erni seine kurze Zusammenfassung. Er habe gar nicht gewusst, dass der Alois allein in der Welt gestanden hatte, keine Ehefrau, keine Kinder, und offensichtlich wohl auch keine Freude – ausser ihnen beiden. Jetzt bereue er es, sich nie mit ihm verabredet zu haben.

Da werde man abgeholt und sterbe, und keiner komme, um sich angemessen zu verabschieden. «Wie abgeholt,» wollte ich wissen. «Ach das sagt man bei uns so,» meinte Erni: «Einer der Engel des Himmels ist gekommen und holt den Sterbenden ab.» «Schönes Bild,» kommentierte ich und erklärte dann: «Aber hört mal, vielleicht täuscht ihr euch ja. Das lag sicher nur an Corona, dass keiner kam. Die Leute sind dieser Tage schlimm verängstigt und scheuen öffentliche Treffen.» «Ja schon, mag sein, aber so gar keiner, das ist mager,» gab Erni zu bedenken.

Dann wandte ich mich wieder an Stoffel: «Warum schimpfst du mich Grünschnabel?» «Weil es zutrifft, bist doch über ein Jahrzehnt jünger als Erni und ich. Wirst uns beide um Jahre überleben,» argumentierte er. «Und ich dachte schon, du findest tatsächlich, ich sei ein Grünschnabel,» lachte ich und versprach: «Wenn es euch ein Trost ist, dann schwöre ich, bei euren Begräbnissen dabei zu sein, falls ich euch tatsächlich überleben sollte.» Erni meinte, er wisse jetzt nicht, ob er sich darüber freue. Ich müsse ihm versprechen, nicht in Jeans und Sandalen zu erscheinen und vorher noch zum Coiffeur zu gehen. Stoffel kicherte. «Nimm es Erni nicht übel,» es hat was gegen uns 68iger. «Gut!» versprach ich: «Aber dann werde ich mir vorher die Haare blau färben, wenn ich schon zum Friseur soll». Erni winkte ab.

Sei schon seltsam, sinnierte Erni murmelnd vor sich hin, kaum schliesse man die Augen, da sehen dich zwar alle andern, du selbst aber nimmst keinen mehr wahr. Man sei und sei gewissermassen auch nicht. Ob man daran denke, wenn man von der Ruhe der Toten spreche? Das sei doch Quatsch. «Wo das Gegenüber fehlt,» meinte er: «und alles in Eines fällt, da ist die Ruhe noch das Lauteste.» «Das heisst dann wohl, du bist mit blauen Haaren einverstanden», versuchte ich Erni abzulenken. Stoffel bedeutete mir zu schweigen.

Stoffel wandte sich nun an Erni, schluckte schwer und fragte: «Was ist jetzt in dich gefahren, Erni?» «Was meinst du?» fragte dieser und fuhr da weiter, wo ich ihn aus seinen Ausführungen gerissen hatte: «Stimmt doch. Ist irgendwie metaphysisch, die Vorstellung, zu sein und doch nicht zu sein. Und dann, wenn du in der Grube liegst oder ernüchtert im Tonkrug abkühlst und verstaubst, dann ist plötzlich Schluss. Dann bist du doppelt nicht; weder wirst du gesehen noch siehst du.» «Jetzt hör aber auf,» wandte ich ein. «Markierst du hier einen auf Heidegger? » «Oha, der Herr Philosoph», wehrte sich Erni: «Dann erklär mir doch mal diesen Widerspruch, wenn du schon alles besser weisst.» Es habe ihn ein eben Gruseln gepackt, als er sich dessen Allem am Begräbnis bewusst wurde. Verstehe er, bestärkte Stoffel den Erni. Die Abschiedsworte des Pfarrers seien belanglos und langweilig gewesen, «auch ich kam auf dumme Gedanken und wäre beinahe selber entschlafen», schloss er. Erni und ich wandten sich Stoffel schmunzelnd zu. Das sei dann wohl ein Freud’scher Versprecher gewesen – das eben.

Ich entschuldigte mich noch und erklärte, ich hätte nicht beabsichtigt, ihn zu beleidigen. Mich über ihn lustig zu machen, liege mir fern. Es sei aus meiner Warte eben bloss ein etwas ungewöhnlicher Gedanke, den er da zum Tod entwickelt habe.

«Stimmt doch nicht,» fiel Stoffel angriffslustig über mich her. «Der Einstein, na da der Albert eben, hat doch so was Ähnliches auch gesagt. Wenn du die Augen schliesst, dann wüsstest du nicht mit Sicherheit, ob der Mond jetzt da sei oder nicht.» Er täusche sich in diesem bescheidenen Punkt, korrigierte ich ihn. Der Einstein habe gesagt, der Mond sei da, auch wenn keiner hinschaut. «Ja vielleicht», gab Stoffel zu, vermutlich habe er das mit Schrödingers Katze verwechselt. Habe er erst kürzlich in einer Dokumentation davon gehört. Erni meldete sich energisch zu Wort: «Hört jetzt sofort auf, ihr zu blond geborenen Dummköpfe! Katze, Mond, Schrödinger, Einstein. Was ihr den lieben langen Tag so alles zusammenfaselt.» «Ok Jungs, ist recht, ich gebe mich geschlagen», versuchte ich zu beschwichtigen. Und zu Erni gewandt: «Du siehst das richtig, ich kann dir diesen Widerspruch auch nicht erklären.»

Erni stellte sich provozierend vor mich hin. Er wolle jetzt von mir wissen, wie ich mir den Tod vorstelle. «Es scheint ganz so, als ob wir heute den Totensonntag feierten», wandte ich mich hilfesuchend an Stoffel. Doch dieser legte Erni schmunzelnd die Hand auf die Schulter und zeigte an, dass auch er gerne erfahren würde, wie denn ich die Sache mit dem Tod anginge. Ich sah keinen Ausweg mehr und dachte kurz nach.

Es gebe ja reichlich Auswahl, wenn man sich unter den diversen Spekulationen über das Sterben und das Danach umschaue. Da ich aber ein Zögling der quantenmechanischen Forschung sei und Gefallen fände an der Vorstellung von Parallel-Universen, würde ich es begrüssen, nach meinem Ableben als Wesen mit wechselnden Persönlichkeiten zwischen den Welten zu surfen. «Das heisst, ich glaube an ein Sein nach dem Tod», schloss ich und hoffte, die beiden würden nun Ruhe geben. «Und das war’s auch schon», fragte Stoffel offensichtlich enttäuscht. Er hätte mehr von mir erwartet. «Ich weiss ja, dass ich nach meinem Ableben ins Paradies berufen werde, wo mich, wenn ich Glück habe, 72 Jungfrauen erwarten werden», versuchte er mich aus der Abwehr zu lockenn. «Ja, wenn du ein Muslim wärst,» lachte ich. Da sei er aber froh, Christ zu sein. Er habe schon mit dem kleinen Dutzend an Frauen im Diesseits seine liebe Mühe gehabt. Drüben brauche er solchen Ärger definitiv nicht mehr.

«Lass ihn nicht so schnell von der Leine», wandte sich Erni an Stoffel indem er auf mich zeigte: «Merkst du denn nicht, der will sich bloss um eine Antwort drücken.» Ich musste lachen und fragte: «Bin ich so leicht durchschaubar?» Wir hatten uns auf unserem Spaziergang oberhalb des Dorfes auf eine Bank unter einer Eiche gesetzt. Diesen Umstand wollte ich mir zu Nutze machen. «Wenn ich im Hier und Jetzt eine Eiche sehe», begann ich zu fabulieren: «Dann fallen mir spontan Götter wie Wotan, Thor, Loge und viele andere ein. Wäre ich nun tot, dann hätte ich die Gelegenheit, mir eine Erfahrungswelt einzurichten, wo Menschen mit Göttern festlich am Tisch sitzen und Met trinken. Ich befände mich dann in der bevorzugten Lage mit Thor ins Albenreich runter zu steigen und mitzuerleben, wie Alberich den Rheinjungfrauen, listig das Gold raubt. Ich könnte mich ob den dummen Riesen freuen oder Brunhilde beim Reiten beobachten.»

Hätte ich von den Germanen die Nase voll, könnte ich lückenlos in eine Parallel-Welt der Griechen, der Ägypter, der Perser oder Chinesen eintauchen und jedes beliebige Abenteuer angehen, als Held, als Verlierer, als reiner Zuschauer – ganz nach Belieben. «Das ist wie gutes Kino», freute sich Stoffel händeklatschend, «da will ich auch hin!» Ein Ort, wo man alles mitmachen könne, wonach einem der Sinn stehe, ja, sagte Erni, sowas würde auch ihm behagen. Das klinge in seinen Ohren wahrhaftig wie ein lohnenswertes Ewiges Leben. «Durchaus,» hackte ich ein, «die Ewigkeit dauert ja ziemlich lange, da wird einem schnell langweilig, wenn man keine Möglichkeiten hat, sich zu zerstreuen.»

«Durchaus, die Alternativen sind  insgesamt wenig verlockend», erklärte Stoffel: «Im Geschäft mit dem Tod bewegt man sich auf fürchterlich dünnem Eis. Entweder es bricht und man geht unter und landet wohlbehalten im Paradies, oder man wird verbuddelt und wartet dann geduldig auf den Anbruch des Jüngste Gerichts. Was Langweiligeres könne er sich überhaupt nicht vorstellen.» Wenn er ehrlich sei, dann würden ihn beide Vorstellungen mit Grauen erfüllen. Erni hegte offensichtlich den Wunsch, auf den Boden der Wirklichkeit zurück zu gelangen. Er brauste auf und meinte: «Ihr seid zwei Traumtänzer, zwar knorrig und rostig, aber Träumer halt.» Was man mit so verspielten Vorstellungen wolle. Das sei doch Quatsch. Wenn man sterbe, werde es Dunkel, Filmriss und Schluss, das sei es dann gewesen. «Auch nicht gerade berauschen viel, was dir zu dem Thema einfällt,» entgegnete ich Erni.

Wir einigten uns, dass es eine Qual sei, die Möglichkeit zu haben, über den eigenen Tod nachdenken zu können. Stellt euch vor, ihr werdet morgen hingerichtet, was da wohl für ein Horrorkino im Kopf abgeht. Da stirbst du nicht nur einmal, nein du stirbst in Etappen und jedes Mal wird es schlimmer, weil du weisst, dass es da kein Entweichen gibt. Wo denn da der Unterschied zu uns anderen sei. Wir wüssten doch alle, dass wir sterben müssten. Ja schon, nur gingen wir nicht davon aus, dass dies gleich morgen sein würde. «Der Alois ist wohl ruhiger gestorben», meinte  Erni. Der Pfarrer habe gesagt, dass Alois zwar nicht an aber doch mit Corona gestorben sei. Alois habe Schmerzen erlitten und sich innigst gewünscht, abtreten zu dürfen. Stoffel meinte ärgerlich, das sei ihm persönlich nun auch kein Trost, denn er wisse jetzt nicht, ob er sich darüber freuen dürfe, weil dem Alois damit wirklich geholfen wurde. Das könne doch jetzt keiner mit Sicherheit wissen. „Wieviel Steuern du dieses Jahr bezahlen musst, das weisst du aber hoffentlich schon noch,“ wandte sich Erni verärgert an den Stoffel.

Doch dann überwog in uns allen der Wunsch nach warmen Füssen, etwas wohligem Frieden, einem Schnapskaffee und einer mit Kissen bezogenen weichen Sitzgelegenheit. Wir machten uns zügig auf den Weg zum Bären zurück, wo wir uns alsbald wie im Paradies fühlten. Zum Jassen hatte keiner mehr Lust, so versprachen wir uns, das bald möglichst nachzuholen.

Veröffentlicht von Proteus on fire

Freischaffender Feuilletonist

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