Bewusstseins-Tausch

Aus der Zeit von damals, als Vinzent mich verärgert fragte, ob ich wirklich glaubte, den Wahnsinn für mich allein gepachtet zu haben.

Auf meinem Gang über den von knorrigen Wurzeln überzogenen Waldboden fielen mir weitere Ungereimtheiten auf. Das verunsicherte mich noch zusätzlich. Ich konnte mich nicht erinnern, auf meiner Flucht hier durchgekommen zu sein. Der Weg, den ich gekommen war, schien in meiner Erinnerung filigraner, weich und von Moos überwachsen. Auch musste man keine gelangweilt herumliegenden Steine beklettern.

Bewusstsein? Ein kompliziertes und weites Feld, komplex und irgendwie umfassend, ein Ding für sich. Man kann zwar Facetten davon mit anderen teilen, aber man kann definitiv ein Bewusstsein nicht gegen das andere austauschen. Trotzdem – wäre echt spassig, wenn ein anderer wie ich, denkend und handelnd an meiner Stelle durch den Alltag bummelte. Wer wäre dann ich? Ein prüfender Blick in den Spiegel liesse mir mein Gesicht zwar vertraut erscheinen, was mir aber fremd schiene, wäre vielleicht die Ungeduld in den Augen, die weissen Haare, das kleine Mal am Kinn oder das feine Zittern meiner Wange.

Und wenn sich irgendwo ein Riss einstellt, dann fällt eines um das andere, wie weisser Stuck von der Wand. Die Kleider, die ich trug, sie würden so gar nicht zu mir passen. Das Schuhwerk wäre womöglich viel zu robust für meine täglichen Bedürfnisse – dass ich Flocken zum Frühstück verzehrte, wo ich doch sonst nur einen Kaffee tränke. Eines nach dem andern würde mir auffallen und mich verunsichern. Diese zunehmende Ungewissheit triebe mich langsam in den Wahnsinn, bis ich unversehens und plötzlich schreiend auf aufstände und mich in den Wald hinaus flüchtete.

Jemand, ein kluger Mann natürlich – ach nein, es war wohl doch eine alte weise Frau – hatte mir mal geraten: «Wenn du wirklich und unverblümt erfahren willst, wer du bist, dann frage einen anderen und vertraue seiner Beschreibung. Diese kommt der Wahrheit wesentlich näher als das, was du von dir selber zu wissen glaubst.» Doch jetzt war nicht die Zeit, andere zu fragen. Ich war mir sicher, da würde keiner sein, der mich in meinem jetzigen Zustand erkennen würde. Gleichzeitig waren auch diese mir fremd, welchen ich unterwegs zufällig begegnete. Zudem, so auffällig und verhaltensgestört, wie ich mich benahm, würde keiner sich freiwillig die Zeit genommen haben, mit mir zu reden.

*

Ich hatte mich einst auf den Wipfel der höchsten Tanne geflüchtet, welche ich in der Nähe von mir ausmachen konnte, und überschaute von dort aus das wogende Grün des Waldes und das anschliessende Gelb der unter der sommerlichen Hitze brütenden Felder. Vereinzelt und verstreut überblickte ich die Gehöfte und Dörfer, bis sich mein Blick allmählich im Horizont verlor, wo die Konturen verblassten und sich kaum mehr etwas Vertrautes zu erkennen gab. Auf einem der mit Stroh bedachten Höfe sah ich einen Fruchtbaum wachsen. Seltsam befremdend dünkte mich dieser poetische Anblick. Er war noch klein, der Baum, trug aber schon ein dichtes Laubgewand, indem einige Vögel mit offenen Schnäbeln sich im Schatten erholten. Und von irgendwoher erklangen leise einige langsam dahingespielte Moll-Akkorde eines Pianos, die mich abholten und mich mit sich weiter in die Fremde trugen.

Leicht abseits zu meiner Rechten vom schaukelnden Hochsitz herunter glaubte ich, Vinzent mit seiner Staffelei zu erspähen. Er hatte sich ein schönes Plätzchen unter einer flirrenden Birke ausgesucht, welche schlank aber elegant das Rückgrat einer bedauernswerten, dem Zerfall nahestehenden Scheune bildete. Hatte die Birke die Scheune oder sie den Baum als Gefährten ausgesucht? Mir schien dann doch, als hätte man die Birke allein zu Stützungszwecken dahin gepflanzt. Ich begann mich etwas verunsichert zu wundern, was ich hier oben im Wipfel der Tanne zu suchen hatte. Doch mir fehlte jeglicher Anhaltspunkt. Darum beschloss ich, der ich für gewöhnlich an Höhenangst litt, langsam und vorsichtig wieder runter zu steigen und Vinzent einen Besuch abzustatten. Vielleicht würde es ihn freuen, mir aber bedeutete es gewisslich viel, eine Gelegenheit, die ich mir unmöglich entgehen lassen durfte.

Auf meinem Gang über den von knorrigen Wurzeln überzogenen Waldboden fielen mir weitere Ungereimtheiten auf. Das verunsicherte mich zusätzlich. Ich konnte mich nicht erinnern, auf meiner bisherigen Flucht hier durchgekommen zu sein. Der Wald schien dichter als jener, den ich in Erinnerung trug. Nichts, das mir vertraut war, obwohl ich mich doch früher viel im Wald aufgehalten hatte. Der Weg, den ich gekommen war, schien in meiner Erinnerung filigraner, weich und von Moos überwachsen. Auch musste man nicht laufend hohen Steinen ausweichen, die hier überall gelangweilt herumlagen. Und woher rührte die plötzliche Grobheit der Bäume mit ihren massiv vernarbten Rindenkrusten? Selbst die Farben schienen kräftiger, dunkler wie sonst, als hätte sie einer mit kräftigen Pinselstrichen hingemalt. Alles wirkte undurchdringlich und bedrohlich. Der Weg war weit und begann mich zu ermüden. Ich war froh, an einen verträumt vor sich hin gluckenden und gurgelnden Bach zu gelangen. Die nachmittägliche Hitze hatte mir selbst hier im tiefen Wald ziemlich zugesetzt, weshalb ich beschloss, mich kurz hinzusetzen, einen Schluck zu trinken, mich zu erholen und neu zu orientieren.

Ich ruhte noch nicht lange, da vernahm ich eine raue Stimme hinter mir: «Hei Fremder, erschöpfter Wanderer, hast du nichts Währschaftes zu Futtern in deiner Tasche? Wisse, betteln ist entspricht nicht meiner Art, aber ich bin abgebrannt, wieder einmal, habe heute in der Früh meinen letzten Groschen für etwas Farbe ausgegeben.» «Vinzent du,» fragte ich erstaunt und aufgeschreckt zugleich. «Was machst du hier im Wald? Ich dachte, du sässest auf dem Felde und maltest die wogenden Getreideähren». «Die verdammten Raben haben mich gestört. Sind mir unheimlich, diese gefiederten Teufel,» erwiderte er. Jetzt sei er eben hier und fühle sich hungrig.

Ich trug nicht viel bei mir. Lediglich einen mit Schokolade überzogenen Getreideriegel, den ich immer als Notreserve bei mir trug. Ich drehte mich um und wollte den Riegel an Vinzent rüberreichen. Doch da war zu meinem Erstaunen keiner zu sehen. Hatte ich mich getäuscht? Ja litt ich gar unter Visionen und Wahnvorstellungen? Mich hatte wohl das Schlagen einer fernen Kirchturmglocke geweckt. In der Hand hielt ich immer noch den klebrigen Stängel, der geschmolzen war. Potz Heidekraut! Mir schwindelte und der Schädel brummte mir wie nach einer durchzechten Nacht, träumte ich nun oder war ich wach? Keine leichte Entscheidung, wenn keine drei Meter von einem entfernt ein Reh, meine Anwesenheit ignorierend, seine durstige Nase zum Wasser neigt.

*

Dann dämmerte mir und ich angelte mich entlang eines schwachen Erinnerungspfads irgendwohin zurück – ich steckte tief im Dilemma, weil mein Bewusstsein und alles, was damit zusammenhing, irgendwie nicht zu mir passen wollte. So tat ich, was ich normalerweise nie tun würde. Auf der Fortsetzung meiner Wanderung durch den Wald gelangte ich an eine herrschaftlich gebaute Waldbehausung, um die einige grosszügige Wirtschaftsgebäude gereiht waren. Offenbar handelte es sich hier um den Wohnsitz eines bekannten und einflussreichen Mannes. Ich klopfte an und hoffte, dass jemand zuhause sein würde. Ich hörte von drinnen Schritte, die Türe öffnete sich und im robusten Holzrahmen zeichnete sich die zierliche Gestalt einer attraktiven Frau ab. «Woher des Wegs, Fremder,» fragte sie mich verwundert. Ich hätte mich verirrt. Es sei bereits am Einnachten und ich fürchtete, das ich unweigerlich draussen im Wald schlafen müsste, wenn mir nicht eine mitfühlende Person gnädig wäre. Deswegen hätte ich mich gefreut, diese stattliche Behausung gefunden zu haben. Wenn sie doch so freundlich wäre, mir Herberge zu gewähren. Auch sei ich hungrig und hätte nichts Essbares bei mir. Und die Jagd sei definitiv nicht mein bevorzugtes Hobby, versuchte ich zu witzeln.

Ihr Name sei Sieglinde und sie hoffe, dass von mir keine Gefahr ausgehe, denn sie sei im Augenblick allein zu Hause. Gerne lasse sie mich eintreten, «sei willkommen als Gast,» ich hätte Glück, auf dem Feuer schmore ein Rehbraten, von dem wohl auch ein Stück für mich übrigbleiben würde. Ich müsse aber wissen, sie erwarte in Bälde ihren Mann in Begleitung seiner zahlreichen Jagdgesellent zurück. Dann würde es bestimmt hoch zu und hergehen. Das sei so alte Jägersitte. Ich ängstigte mich innerlich, denn das Ganze war mir ausnahmslos fremd und passte nun definitiv nicht mehr zu meiner Person. Die Art wie die Frau zu ihm sprach, die dürftige, ans frühe Mittelalter erinnernde Einrichtung des Hauses, der aus massiven Steinen gebaute Herd in der Mitte – und noch so vieles mehr. Dies alles erinnerte mich eher an Adelbert Stifters «Witiko». Doch das war Nonsens, ich war der Vertreter einer anderen Zeit. Hier gehörte ich definitiv nicht hin. Doch was blieb mir in der Situation übrig, als zu bleiben, da ich den Weg zu nach Hause nicht gefunden hätte. Und vielleicht konnte man ihm wenigstens in dieser Hinsicht etwas später weiterhelfen. Die Männer der Jagdgesellschaft würden sich hier im Wald doch sicherlich auskennen und ihn unterstützen.

Du weisst jetzt wie ich heisse. Doch wie nennt man dich, Fremder,» fragte mich Sieglinde mit einem einladenden Lächeln auf den Lippen. «Ich habe viele Namen,» eröffnete ich die Ansage zu meiner grossen Überraschung: «Wehwalt müsste ich heissen, habe ich doch meinen Heimweg vergessen, aber nenne mich Siegmund, oder wie du magst, dass ich heissen soll, dann spielen wir wenigstens auf der gleichen Bühne.» Letzteres, meine zynische Bemerkung, entsprungen der reinen Verzweiflung, schien sie überhört zu haben, doch beim Namen Siegmund stieg ihr die Röte ins Gesicht. «Dann bist du mein Zwillingsbruder, Blut von meinem Blut. Wir sind die Zwillingsgeschwister unseres Vaters, des einäugigen Wanderers mit den zwei ihn begleitenden Raben auf seiner breiten Schulter, » eröffnete sie mir. «Wenn du es sagst,» ich konnte mich nicht an dergleichen aberwitzige Abstammungsgeschichte erinnern. Dann erinnerte ich mich plötzlich an jenen Ratschlag, dass man jemanden anderen fragen sollte, wenn man wissen möchte, wer man sei. So stellte ich mich mit den befremdlichen Tatsachen einstweilen zufrieden und harrte geduldig der Dinge, die da noch auf mich warten sollten.

Dann kamen sie endlich zurück von der Jagd, trampelten wie Rindviecher mit ihrem verschmutzten Schuhwerk mitten in die gute Stube und grölten und krakeelten herum, bis sie mich erstaunt in der dunklen Ecke des Raumes erblickten. «Tritt ans Licht,» forderte mich Hunding (der sich benahm, wie er hiess). Ihm fiel dabei wohl sofort meine grosse Ähnlichkeit zu seiner Gemahlin auf und nur wenige Augenblicke dauerte es, bis er mich zu kennen schien. «Siegmund, du übler Geck,» hob er an. Den ganzen Tag seien sie im Walde herumgestreift und hätten nach ihm gesucht. Nun komme er müde und betrunken nach Hause und finde mich hier in seiner Stube, ausgeruht und wohl genährt, unter seinem Dach als Gast seiner Frau wieder. Das sei ihm zu trickreich. Für diese Nacht könne er, Siegmund, noch bleiben und sei der Gast, doch morgen werde man ihn zur Rechenschaft ziehen. Der tödliche Zweikampf sei ihm gewiss.

Sieglinde, die nur zu Gut ihres Gatten rohe Kampfkünste kannte, versetzte die gesamte Jagdgesellschaft dann folgerichtig mit einem dem Bier beigemischten geschmacksneutralen Elixier in den Tiefschlaf. Sie erhoffte sich so, ihren Bruder vor dem sicheren Tod retten zu können. Zu lange hatte sie selbst unter der Rohheit ihres Mannes, dem sie vor Zeiten ungefragt verschenkt worden war, gelitten. Hier dämmerte ein Licht in meinem mich seit einer geraumen Weile stets nur täuschenden Bewusstsein. Ich glaubte mich daran zu erinnern, als junger Mann in London in der Royal Opera Wagners «Walküren» gesehen zu haben. Und da ich nun plötzlich wusste, was das Regiebuch für Sieglinde und mich vorsah, wollte ich der Geschichte ein Ende bereiten, selbst dann, wenn dies bedeuten sollte, dass Siegfried nicht gezeugt würde. Also beschloss ich, unbemerkt in die Nacht hinaus zu fliehen.

*

Abermals flüchtend, finde ich mich auf meinem Weg unversehens bei Vinzent an der baufälligen Scheune wieder. Er stand da tief über seine Staffelei gebeugt, ist eben dabei, mit kräftigen Pinselstrichen die tiefgelben Blüten einer Sonnenblume zu post-impressionistischem Dasein zu erwecken. Und ich beobachte tief beeindruckt, wie er eine gespenstisch anmutende Atmosphäre hinzu komponiert. Dann erreichen mich abermals die zarten Moll-Akkorde eines geheimnisvollen Klaviers und erinnerten mich sanft daran, was mir fehlte und wonach ich mittlerweile wieder verzweifelt suchte. Nach wie vor rätselhaft dabei war mir die Frage, wo ich denn nach meinem vergessen gegangenen oder vertauschten Bewusstsein suchen sollte.

Im nächsten Dorf, das auf meinem Weg liegt, stoße ich abermals auf Vinzent, der mit seiner Staffelei unter dem Arm auf dem Weg zu seiner Pension war. Er ging langsam und gebückt und hielt sich krampfhaft den Bauch. Er schien schmerzen zu haben und Blut zu verlieren. «Bist du immer noch nicht du,» fragt er mich erstaunt. «Ja weisst du denn nicht, dass man das Bewusstsein nicht einfach mal so tauschen kann? Glaubst du wirklich, den Wahnsinn für dich allein gepachtet zu haben? Hör auf es irgendwo da draussen zu suchen, geh in dich und finde es da, wo es eigentlich hingehört.» Das traf mich wie ein Blitz.

Ich stieg auf die Barrikaden und beschloss, zum Äussersten bereit, in die Revolte zu gehen. Wollte dieser Alptraum denn nie wieder enden? Was bezweckte man damit, mich durch dieses verwirrende Labyrinth der Illusionen zu schicken. Ein Arzt musste her, ja ein Seelendoktor, der würde mir bestimmt weiterhelfen, eine Pille, eine Tinktur, egal was. Doch für den Augenblick fühlte ich mich dann doch zu schwach, um wehrhaft weiter zu kämpfen. Also legte ich mich unter die grossen Eiche neben der Kirche, da wo der Weg zum Friedhof am kürzesten ist, und fand endlich etwas Frieden von der langen Flucht in einem tiefen Schlaf.

«Papa steh auf, du hast verschlafen, es ist längst Zeit zur Arbeit zu gehen,, rief mein Sohn, mich kräftig wachrüttelnd. Ich schreckte hoch und das erste, was mich überfiel, war ein warmes Gefühl der Vertrautheit, ich hatte mich glücklicherweise wieder. Noch nie zuvor, war ich so zufrieden damit, zu sein, wie ich war.

Veröffentlicht von Proteus on fire

Freischaffender Feuilletonist

Ein Kommentar zu “Bewusstseins-Tausch

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