Stoffel und Erni sortieren die Welt neu

Zufällig wurde ich am Vortag des 1. August des Jahres 2020, dem Schweizer Nationalfeiertag, Zeuge einer Unterhaltung zweier Senioren zum allgemeinen Weltgeschehen und zu Corona im Besonderen. Doch alles der Reihe nach. Ich befand mich gerade im Dorfzentrum auf meiner kleinen Einkaufstour im Coop-Zentrum. Der Vorteil eines Single-Haushalts bestand darin, dass man hinterher nur wenig beladen den Heimmarsch antrat und ohne lahmende Schultern die Tasche durch die Eingangstür trug. Nach getätigtem Kauf beschloss ich das Restaurant aufzusuchen, um mir einen Kaffee zu gönnen. Und vielleicht würde ich ja dort noch jemanden antreffen, mit dem ich einige Worte wechseln durfte. Die zurückliegenden Monate boten diesbezüglich auf Grund des Lock-downs und der verschiedenen gesundheitlichen Sicherheitsmaßnahmen wenig Abwechslung. Ich orderte mein Getränk und spürte etwas Enttäuschung darüber, dass ich beim aufmerksamen Absuchen der spärlich besetzten Tische niemanden entdeckte, den ich kannte. Um mich nicht zu langweilen, zog ich mein Handy hervor und wischte mich durch die Fotos, die ich vergangene Woche anlässlich eines Blitzbesuchs in meinem Heimatdorf in der Innerschweiz geschossen hatte.

Dabei fiel mir plötzlich auf, wie sehr sich das Dorf in den vergangenen Jahrzehnten verändert hatte. «Nicht zum Vorteil, » dachte ich bei mir. Großflächig sind da, wo sich früher weite Grasweiden erstreckten, Neubauten entstanden, rechteckige, hässliche Betonblöcke, mathematisch ausgearbeitet. Vermutlich alles Eigentumswohnungen. Wo früher das gelegentliche Glockenschlagen widerkäuender Kühe ertönte, quietschten jetzt Pneus, hämmerte der Schlagbohrer und hupte die Kehrrichtabfuhr. «Wenig lebenswert, » urteilte ich, und ich erblickte vor meinem geistigen Auge die reich mit Blumen bewachsenen Wiesen und sah die Schwalben darüber ihre pfeilschnellen Kreise ziehen. Schnell trank ich meinen Kaffee aus, steckte mein Handy weg und machte mich nachdenklich auf den Heimweg.

Das Pech, oder das Glück, ganz wie man will, erzwang von mir, dass ich auf den nächsten Bus warten musste. Wie ich da so leicht genervt stand, vernahm ich deutlich die Stimme zweier Altersgenossen in meiner unmittelbaren Nähe. Ich hörte, dass der eine der beiden, er wurde Stoffel genannt, sein Gegenüber fragte, ob er sich eigentlich auch noch an einige der kleinen Geschäfte erinnern könne, die vor Jahrzehnten hier an der Hauptstraße zu finden waren: die Käserei, zwei Metzgereien, eine Konditorei, zwei Lebensmittelläden und ein Bäcker. Und zudem hätte man die reiche Auswahl zwischen drei Coiffeur Geschäften gehabt? Das Coop-Zentrum und den Migros-Großverteiler habe es damals noch nicht gegeben.

«Hast du gewusst,» fragte Erni nach einer kurzen Verschnaufpause, «dass mein Vater in den zwanziger Jahren als Melker bei einem Grossbauern angestellt war? Er war einer von dreissig anderen.» Es hätte damals zwei oder drei Grossbetriebe in der Region gegeben und die hätten alles in der Hand gehabt, die Leitung des regionalen Milchgenossenschaftsverbands und sogar einige Kantonsabgeordnete. Den gut zwei Dutzend Kleinbauern, die es noch gegeben hätte, sei damals das Wasser bis zum Hals gestanden. Die meisten hätten in der Folge aufgegeben oder einen auf Selbstversorger gemacht. Nur wenige hätten überlebt. «Ja hast du mir schon oft erzählt, das von deinem Vater,» antwortete Stoffel und sah sein Gegenüber fragend an, um zu erfahren, worauf er hinauswollte. «Ja schon,» sinnierte Erni leicht irritiert vor sich hin, fuhr dann aber mit fester Stimme und im Brustton der Überzeugung fort,: «Bedenkt man es recht, dann war doch das damals schon dasselbe wie etwas später hier mit den Geschäften.» Ja, die Grossen verdrängten immer die Kleinen. Im Unterschied zu Zecken kriegten diese den Hals aber nie voll: «Umsatz, Umsatz ohne Ende,» schloss Erni.

«Klar kann ich mich daran erinnern, ganz ob es erst gestern gewesen wäre, » meinte Erni mit fast schon beleidigtem Unterton in der Stimme. Beim Hinsehen bemerkte ich, dass Erni vielleicht einen halben Kopf kleiner schien als sein Gesprächspartner, der im roten Flanellhemd dastand und bei den sommerlichen Temperaturen sicherlich schwitzte. «He, he, » grinste Stoffel: «denkst bestimmt immer noch voller Sehnsucht an die rassige Lisbeth aus dem kleinen Käsereigeschäft. Die war schon ne kesse Nummer. Immer zu Scherzen aufgelegt. » «Ach du alter Esel, gerade du hast es nötig, mich deswegen aufzuziehen, wer hat ihr denn immerzu schöne Augen gemacht, der flotten Lisbeth, wenn nicht du. Gib es nur zu. Ich erinnere mich noch gut daran. Nur gut, hat sich die Hildi deiner letztlich erbarmt, sonst wärst du heute noch ein einsamer alter Schwerenöter, der in ungebügelter und zerrissener Hose rumläuft und sich und anderen das Leben schwermacht. Erinnerst dich wohl nicht mehr, dass du, wie vom Blitzgetroffen, beinahe am Boden zerstört dalagst, als man die Lisbeth plötzlich am Arm des flotten Alfonso die Dorfstraße entlang flanieren sah. » Stoffel schien kurz leer zu schlucken – zum Spaß oder nicht, das konnte ich aus der Distanz nicht ausmachen. Er meinte dann aber beinahe schon wehmutsvoll: «Ja damals war die Welt noch irgendwie gefälliger gebüschelt. » An dieser Stelle überkam mich ein leises Lächeln, «sag ich‘s doch, meine Gedanken von eben. »

«Auch wir kannten zwar unsere Fights, » fuhr Stoffel fort, «aber irgendwie wusste man stets noch, worum sich alles drehte und worauf es ankam. Man fühlte eine Balance in sich, die einen aufrecht hielt und gell, Erni, » dabei klopfte er seinem Gegenüber kräftig auf die Schulter, dass dieser leicht ins Schwanken geriet, «so leicht hat einem damals nichts aus dem Gleichgewicht gebracht. » «Jetzt hättest du mich beinahe zu Fall gebracht, » maulte Erni leicht erbost. Stoffel fuhr ungebremst in seinen Ausführungen fort: «Ich verstehe nicht, wie sich alles zu dem wenden konnte, was heute ist. » Man habe doch seine Mitmenschen stets respektiert, habe ihnen, falls nötig, gerne geholfen und sie freiwillig unterstützt. Und doch geschah, dass sich über die Jahre vieles zum Schlechteren drehte. Unversehens seien die Großverteiler im Dorf aufgetaucht und die Inhaber der kleinen Geschäfte hätten in der Folge leider aufgegeben, ihre Sachen gepackt und die Läden dichtgemacht oder verkauft. Gleichzeitig mit den Läden seien dann aber auch Sitten und Gebräuche irgendwie verloren gegangen. Der Umgangston zwischen den Menschen sei sachlicher und monotoner geworden. Anregende Gespräche hätten kaum mehr stattgefunden und das Interesse am Gegenüber sei flöten gegangen. Man tausche nur noch Belanglosigkeiten, erzähle sich aus der Erinnerung die Zeitungsnachrichten vom Vortag und sei froh, wenn das Gegenüber auf die Uhr schaue und damit andeute, dass es Zeit sei, zu gehen. «Weiß es auch nicht besser, » nickte Erni, «muss dir vollumfänglich recht geben. »

«Hast du gewusst, » fragte Erni nach einer kurzen Verschnaufpause: «dass mein Vater, Johann, Gott hab ihn selig, in den zwanziger Jahren als Melker bei einem Groß Bauern angestellt war? Er war einer von dreißig anderen. » Es hätte damals nur zwei oder drei Großbetriebe in der Region gegeben und die seien die Könige über alles und jeden gewesen, alles tanzt nach ihrer Pfeife.  Die Leitung des regionalen Milchgenossenschaftsverbands oblag ihrer Verantwortung so gut wie einige Kantonsabgeordnete, welche sich in ihren Reden nach deren Willen zu äußern hatten. Den zwei Dutzend Kleinbauern, die es noch gab, sei damals das Wasser bis zum Hals gestanden. Die meisten hätten sich gezwungenermaßen genötigt gesehen, aufzugeben, oder einen auf Selbstversorger zu machen. Nur wenige überlebten als Kleinbauern. «Ja, hast du mir schon oft erzählt, du Demenzgeplagter – das von deinem Vater, » antwortete Stoffel und sah sein Gegenüber fragend an, um zu erfahren, worauf er hinauswollte. «Ja schon, » sinnierte Erni leicht irritiert vor sich hin, fuhr dann aber mit fester Stimme und im Brustton der Überzeugung fort: «bedenkt man es recht, dann war doch das damals vergleichsweise schon dasselbe wie etwas später hier mit den Geschäften und den Groß Verteilern. Ja, die Großen verdrängen immer die Kleinen. Das ist die Regel. Im Unterschied zu Zecken kriegen diese den Hals aber nie voll. Umsatz, Umsatz ohne Ende, » schloss Erni ernüchtert.

«Sag mal, jetzt wo wir grad so gemütlich dabei sind, die Welt neu zu sortieren. Was hältst du eigentlich davon, dass es tatsächlich Leute geben soll, man nennt sie im Fernsehen, Verschwörer, die behaupten, dass Corona gar keine Pandemie sei, sondern nur ein Vorwand. Dass es darum gehe, uns Menschen, das Vieh, mundtot zu machen und unseren Gehorsam zu testen, um insgeheim eine neue Weltordnung einzurichten, » fragte Stoffel nach Luft ringend, da ihm der Satz zu lang und beinahe schon zu kompliziert wurde. «Den Schmarren willst du doch nicht wirklich glauben, » sah Erni den Stoffel beinahe entrüstet an. «Nein, » zierte dieser nun leicht verunsichert: «Ich will ja bloß von dir erfahren, wie du darüber denkst. » Die würden behaupten, dass die Superreichen da so ein Ding am Drehen wären, um schnell noch reicher zu werden. Erni geriet in Rage: «Die haben doch ohnehin schon genug Kohle, » er verstehe nicht, warum die davon immer noch mehr bräuchten. Die würden doch keineswegs die Gunst besitzen, so lange zu leben, dass es ihnen gelänge, all ihr schönes Geld aufzubrauchen. Die müssten ja gleichsam die Ewigkeit überwinden, um dahin zu gelangen.

Stoffel nickte beipflichtend. Dann lachte er: «Und wir zwei alten Knacker stehen in zwei oder drei Jahren abgebrannt vor der Tür des Herrn und reichen ihm dankbar die Hand und bitten gnädig um Einlass. » Erni wehrte zurücklachend ab: «Lass das Jammern, Stoffel, wir haben es immer noch drauf, ein paar Jährchen mehr bleiben uns schon noch. » «Dein Wort in Gottes Ohr, » brummelte Stoffel und fuhr dann fort, ob er noch wisse, wie sie sich zu ihrer Zeit für eine neue Weltordnung eingesetzt hätten, mit Blumen in den Haaren und Joints, aus Maisblättern gedreht, sich einmütig gegen den Krieg gewandt hätten, lauthals für den Frieden eingestanden seien und die große Verbrüderung der Menschen und den freien Sex gefeiert hätten. «Neue Welt Ordnung, wenn ich den Bockmist nur schon höre, » wetterte Erni los. «Was soll daran verführerisch sein. Glaubst du wirklich, das Vreni wäre mit uns an die Demos gegangen, wenn wir für eine neue Weltordnung gekämpft hätten? » «Au Erni, das haben wir doch damals auch irgendwie getan. Ich wüsste nichts Anderes, » gab Stoffel zu bedenken. «Frieden für alle, das war unser Ding – und frei nach Beethoven, alle Menschen werden Brüder. War doch insgesamt gesehen eine erfolgreiche, herrliche und unbekümmerte Zeit. » «Hätte ja beinahe auch geklappt, » lenkte Erni zustimmend wieder ein. «Wenn es damals bloß den eigensinnigen Iwan nicht gegeben hätte. Der hat alles verdorben. »

Ja und heute sei es nicht nur der Russe, der den Weg zum Paradies versperre, jetzt gebe es neuerdings auch noch den ehrgeizigen Chinesen und die zu Tausenden von Afrika illegal einflutenden Schwarzen. «Was willst du da noch ausrichten, » fragte Erni nachdenklich. «He du Depp, » brauste Stoffel plötzlich auf, als hätte er eine Erleuchtung: «es geht hier nicht darum, dass das Volk eine neue Weltordnung errichten will. Es sind doch die Verschwörer, welche behaupten, dass die Superreichen so etwas einzurichten planten. Das ist ein wichtiger Unterschied. » «Wie das? Wovon sprichst du, » fragte Erni irritiert: «hast heute früh wohl schon zu tief ins Schnapsglas geguckt. » «Jetzt hör aber auf, » ereiferte sich Stoffel, da sei doch wohl klar ein Unterschied vorhanden: «wir haben uns damals gegen die Regierungen und das Establishment aufgelehnt, die Reichen hingegen scheuen sich heute nicht und lassen sich bei ihrer Umstrukturierung sogar noch von den Regierenden helfen. Man sagt, die meisten Regierenden in den wichtigsten Staaten auf dem Erdenrund sind gekauft. Weißt du, ganz so, wie du das vorhin von den Groß Bauern und den Kantonsabgeordneten verklickert hast. » «Ah! Jetzt verstehe ich. Klar du hast recht. Abgefahren, » pflichtete Erni seinem Freund bewundernd bei. «Vermutlich wird die Welt nie so perfekt sein, dass alle Leute, welche sie bewohnen, damit zufrieden sind, » schloss Erni seine vergleichende Betrachtung. «Ja, einer bleibt immer übrig, der es besser weiß und alles anders haben will, » pflichtete Stoffel nachdenklich bei: «aber das soll für heute nicht mehr unsere Sorge sein. »

«He du, » wandte sich Stoffel plötzlich an mich. Ich erschrak. «Hast doch eben den Bus abfahren lassen, » sagte er mir mit Bedauern. Er musste wohl mitbekommen haben, dass ich schon längere Zeit ihrem Gespräch gelauscht hatte. «Was bist denn du für einer, wohl auch nicht mehr der Jüngste, von wegen Wahrnehmungsdefiziten und so, » witzelte er. «Entschuldigt mich, ihr Herren, ich gebe es zu, ich habe interessiert eurem Gespräch gelauscht und war so fasziniert davon, dass ich gar nicht bemerkte, wie ich den Bus verpasst habe. Eigentlich seid ihr daran schuld, dass ich jetzt immer noch hier stehe. » Es täte mir aber leid, und ich entschuldige mich dafür, heimlich gelauscht zu haben. «Aber ich glaube zu wissen, wie ich das wieder gut machen kann, » schloss ich. «Ich biete euch höflich, simpel und einfach, eine Einladung zum Bier an und hoffe, dass ihr annehmt. Vielleicht habt ihr ja Lust und wir können dann zu dritt die Welt nochmals demontieren und neu sortieren. »

Erni und Stoffel sahen einander überrascht an und schienen einverstanden. «Na gut, » sagte Erni: «übrigens ich bin der Ernst, alias Erni, und der Schräge da ist der Christoph, den aber alle nur Stoffel  schimpfen. » «Und ich bin der Rick, » stellte ich mich ihnen vor. «Aha, Rick, kannst du uns sagen, was eigentlich ein Verschwörungstheoretiker sein soll, » fragte mich Erni prüfend. Das sei einer, der bestimmte Ereignisse des gesellschaftlichen oder politischen Lebens in einer anderen Weise auslege, als dies die Allgemeinheit üblicherweise tue. «Ist ja ein Ding, » meinte Erni: «und ich dachte, wir lebten in einer Demokratie, wo jeder denken und frei heraus sagen kann, was er will, wenn er nur Bereitschaft zeigt, zu seiner Meinung zu stehen, » aber da irre er wohl. Und morgen sei erst noch ein Feiertag, der Nationalfeiertag.

«Feiertag hin oder her, » Stoffel hob mittlerweile schon etwas ungeduldig seinen Zeigefinger und dirigierte uns dann fürsorglich aber bestimmt über die Straße. «Genug des gescheiten Daher Laberns. Lasst uns hurtig rüber zu Joes Bar gehen, die besitzen sicherlich ein gutes Set Jass Karten. Wir sind zu dritt, das ist gerade richtig für einen Tschau Sepp. Auf in den Kampf. Die nächste Revolution kann zwischenzeitlich noch etwas warten. »

Veröffentlicht von Proteus on fire

Freischaffender Feuilletonist

2 Kommentare zu „Stoffel und Erni sortieren die Welt neu

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