Welcher aus dem Heer der Engel ist es gewesen, der des Nachts an des Kleinkindes Bett trat, sich leise vorne über beugte und dem schlafenden Zauberwesen sanft die Stirn küsste? Man wird es in diesem und anderen Fällen nie herausfinden. Anderntags jedoch, nach dem Aufwachen, lacht das Kleinkind seiner Mutter ins Gesicht und sagt sein erstes Wort: «Papa», in der Muttersprache seiner Eltern.
Statt einen Engel zu bemühen, hätte ich jetzt einfach prosaisch berichten können, dass ein Kleinkind am Morgen aufgewacht ist, und wie es der Zufall wollte, sein erstes verständliches Wort sprach: «Papa». Auch schön. Nur finde ich, dass ein Engel dem Anlass wesentlich gerechter wird, um zum Ausdruck zu bringen, was sich da über die letzten Wochen und Monate im Kleinkind an Geheimnis angebahnt hat.
Im nämlichen Moment des Kusses rast draussen vor dem Haus ein Sanitätswagen mit Blaulicht und Sirenengeheul vorbei. Die Eltern des schlafenden Mädchens sind vor dem Fernseher eingeschlafen und wurden nun aufgeweckt von der Sirene. Sie schauen etwas verwundert um sich und lächeln dann einer dem anderen etwas verlegen zu. Sie finden es amüsant, dass sie beide wohl gleichzeitig eingenickt sind.
Das schlafende Mädchen wimmert leise in unregelmässigen Abständen vor sich hin. Es wohnt in einem archetypischen Traumbild eines farbigen Vogels, ähnliche einem Storch, der aus dem grauen Himmel fällt und paukenschlagend über dem Boden einige Kreise fliegt. Sein Bauch ist eine Pauke und mit den Flügeln schlägt er darauf seinen befremdlichen Takt. Ich erinnere mich, dass es früher mal blecherne Trommler gab, die über einen Schlüssel aufgezogen werden konnten, worauf sie wackelnd und trommelnd über den Tisch torkelten. Das Kind weiss nicht was es da sieht und versteht nur das Schlagen der Pauke, welches wiederkehrend bedrohlich und dumpf wirkt.
Die Mutter, nach einem herzhaften Gähnen, glaubt ein Wimmern zu hören und beschliesst hinauf ins Kinderzimmer zu steigen, um kurz nach Sia zu sehen, ob mit dem Kind alles in Ordnung ist. Sie nimmt es zärtlich in den Arm und drückt ihm einen Kuss auf die Stirn, worauf sie ein kurzes Lächeln im Gesicht ihres Töchterleins wahrnimmt. Sie möchte lachen, sie kennt diese Geste, ist es doch das untrügliche Zeichen dafür, dass Sia eben gepinkelt hat. Sie will ihre Tochter deswegen aber nicht wecken und legt sie darum vorsichtig ins Bettchen zurück.
Der Vater, erhebt sich etwas steif vom Sofa und beschliesst sofort und ohne Zähneputzen ins Bett zu gehen. Er würde das in der Frühe vor der Arbeit nachholen. Da ruft ihn seine Frau, welche das Treppenhaus runtersteigt und bittet ihn, doch schnell einen kurzen Blick in den Keller zu werfen, sie habe droben in Sias Zimmer ein dumpfes Klopfen gehört, das vermutlich aus dem Keller kam. Das Geräusch klinge etwas beunruhigend. Nachdem der Mann aus dem Keller zurückgekehrt ist, beruhigt er seine Frau, es sei weiter nichts Schlimmes, man brauche sich keine Sorgen zu machen jemand habe wohl aus Versehen die Heizung auf manuell umgestellt, weshalb sie trotz der sommerlichen Nachtwärme geheizt habe, was wohl der Grund für dieses dumpfe Schlagen gewesen sei.
Beim die Treppe heruntersteigen tritt die Frau, gut trug sie ihre Hausschuhe und ging nicht barfuss, in einige Scherben. Sie sieht, dass an der Treppenwand das altertümliche Bild vom Engel, der in einer Gewitternacht zwei Kinder beschützt, heruntergefallen ist. Gut, denkt sie, das Bild stört mich schon lange. Wie aus Versehen tritt sie darauf, dass es knirscht, holt dann Schaufel und Besen und kehrt das Häufchen samt Bild zusammen und schmeisst es in den Abfalleimer. Ihrem Mann, der aus unerfindlichen Gründen am Bild hängt, wird sie davon nichts sagen, da es bestimmt lange dauern wird, bis er dessen merkt.
Zwischenzeitlich hat es draussen zu regnen begonnen und Hans beschliesst in den oberen Stock zu steigen, um sich vor dem Schlafen kurz davon zu überzeugen, dass die Dachluke geschlossen ist. Dabei stolpert er die Treppe hoch, fällt hin und fängt sich einen Glassplitter ein, den er sich leise vor sich hin fluchend aus der Hand zieht. Dabei merkt er den fehlenden Engel, ein Bild, dass er im Schlafzimmer seiner Grosseltern zum ersten Mal gesehen hatte. „Was ist mit dem Bild geschehen“, fragt er seine Frau. „Muss wohl runtergefallen sein“, meint sie lakonisch. „Tut mir leid, dass du dich an den Scherben geschnitten hast“, ich war überzeugt, alles zusammengeputzt zu haben.
Im Nachbarhaus hört man eine Tür schlagen und zwei Minuten später öffnet sich quietschend das Garagentor. Jemand jemand fährt, offenbar in Eile, mit dem Auto raus. «Haben wohl wieder mal Streit, die beiden», meint Conny zu ihrem Mann. „Ja scheint so. Ich wundere mich, dass die Beiden überhaupt noch zusammen sind“, antwortet er. Kann uns egal sein, aber ich muss Franz unbedingt daran erinnern, dass er endlich mal das Garagentor ölt. Das Quietschen schmerze in den Zähnen.
Sia wacht auf und beginnt zu weinen. Die Eltern schauen sich an, als würden sie lautlos darüber verhandeln, wer nun hingehen würde, um der Tochter die Windeln zu wechseln. Conny sieht, dass Hans an der Hand blutet und meint leichthin: «Ich werde nachschauen, Sia hat bestimmt nur nasse Windeln». Hans nickt ihr dankbar zu und verschwindet im Badezimmer. Nun kommt er wider Erwarten doch noch zum Zähneputzen. Dann wirft er sich aufs Bett, wo er Augenblicke später bereits schläft.
Und immer noch steht da der Engel. Unbemerkt von allen verfolgt er vom Fuss der Treppe aus gebannt das Treiben der Familie. Das Bild an der Wand im Treppenhaus hat er auf den Boden fallen lassen. Er hasst diese schwülstigen Darstellungen von Jesus gleichen Engeln, deren Tun so gar nichts mit der Realität ihres Wirkens gemein hat. Dass der Mann beim Herausziehen der Glasscherbe geflucht hat, zwingt ihm ein kurzes Lächeln ab. Wissen die Menschen denn nicht, dass bisweilen auch Engel fluchen. Er beschliesst, dass Sia morgen beim Aufwachen statt «Mama» «Papa» lallen wird. Das wird Hans freuen und dafür entschädigen, dass er in die Scherbe greifen musste.
Im Dorf vorne haben die Polizei und die Angestellten des Abschleppdienstes es endlich geschafft, die beiden Unfallwagen von der Strasse zu bringen und in die Reparaturwerkstätte abzuschleppen. Etwas Öl verschmierte die Fahrbahn. Einer vom Abschleppdienst streut Sägemehlspäne darüber. „Das dürfte reichen“, denkt er, es werde daran wohl keiner Schaden nehmen. Die Strasse wurde von den Splittern der gebrochenen Frontscheiben freigewischt, so dass für den Werkverkehr in der Frühe keine Gefahr mehr bestehen konnte, dass einer sich einen Platten einfahren würde. Die beiden Kollegen, welche man für den polizeilichen Nachtdienst aufgeboten hatte, sind froh, dass endlich Feierabend ist.
«Du Fred», sagt der eine zu seinem Kollegen, «hast du gewusst, dass mein Sohn gestern zum ersten Mal gesprochen hat»? Fred verneint, «Was hat er denn gesagt», fragt er. «Ja, Mama natürlich» und fügt lachend hinzu, «ich glaube, der weiss gar nicht, dass er mich auch noch gibt». Das Erziehungsgeschäft habe er gänzlich seiner Frau überlassen, und das sei jetzt eben die Quittung dafür. Er versuchte sich mit diesem Gespräch das Bild vom schwer verunfallten Fahrer eines der beiden Fahrzeuge aus dem Kopf zu verscheuchen. Ob der Fahrer, welcher mit Blaulicht und Sirene von der Ambulanz abgeführt werden musste, überleben würde? Und er fragte sich wieder einaml, ob er diesem Beruf wirklich gewachsen wäre. Er fürchtete sich vor Unfällen, da man nie wusste, was man Vorort antreffen würde.
Conny hat sich zwei Tage später, nachdem Sia beim Aufwachen «Papa» gelallt hatte, bei ihrer Freundin etwas verärgert darüber geäussert, dass sie nicht verstehe, wie ihre Tochter nicht «Mama» als erstes Wort gesprochen habe. Letztlich sei sie es doch, welche 24 Stunden um die Uhr für sie sorge. Ihre Freundin versuchte sie zu trösten, in dem sie ihr in Erinnerung rief, sich doch darüber zu freuen, dass sich Sia offensichtlich so grossartig zu entwickeln scheine. Conny schämte sich etwas für ihre kindische Eifersucht und beschloss, ihrem Mann in nächster Zeit etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Auf dem Rückweg nach Hause begegnete sie ihrer Nachbarin, die tief bedrückt zu sein schien. Ob sie krank sei, was ihr fehle, fragte Conny bei ihr nach. Nein nicht krank, nicht wirklich, höchstens krank vor Sorge. Vor zwei Nächten, kurz vor Mitternacht habe sie einen Anruf aus dem Spital erhalten, dass ihr Freund einen schweren Autounfall erlitt und nun im Koma liege. Sie sei eben aus dem Spital zurück. Er liege noch immer im Koma und keiner könne ihr sagen, ob und wann er daraus wieder erwachen werde. Vermutlich habe zu der Zeit sein Schutzengel gerade ein Nickerchen gemacht, oder sei auf geheimer Mission unterwegs gewesen, meinte sie etwas sarkastisch. Sie hasst sich dafür, das gesagt zu haben.
*
Es scheint, als ob die Welt ein Ort sei, an dem unendlich viele Erzählungen parallel stattfänden und einzelne davon an einigen Punkten einander ein wenig ähnelten und für eine kurze Zeit dann zusammen unterwegs waren. Um sich dann wieder zu trennen und je den eigenen Weg weiterzugehen. Schaut man von aussen darauf, dann hat man den Eindruck, als müsse man bloss die einzelnen Punkte eines Erzählstrangs packen und sie untereinander verbinden um Konsens zu schaffen.
Was der Engel an jenem besagten Abend tatsächlich bei Sia zu suchen hatte, bleibt ein Geheimnis. Wenn Hans etwas aufmerksamer gewesen wäre, dann würde er festgestellt haben, dass in der einen Ecke des Kinderzimmers von Sia, ein Stück weissen Stucks von der Decke heruntergefallen war und noch bröselte. Und von hinter der Wand hörte man Stimmen, die zu niemandem gehörten.
Ein Kommentar zu “Bewusstseins-Collage”