Doppelblind und doch sehend?

Manchmal fallen vorder- und hintergründige Grenzen und Linien zusammen. Vom Gegenständlichen ins Unendliche; folge der Farbe Weiss.

Wenn ich mich an meine Jugend zurückerinnere, und das tun alternde Männer, anfänglich noch etwas unangenehm berührt, immer mal wieder – dann also dünkt es mich, als ob ich damals unwissentlich Teil eines umfassenden Experiments gewesen sein könnte; aufgezogen unter den Parametern einer Doppelblindstudie.

Ich führte also ein Leben, bei dem weder ich, meine Eltern, die Lehrer noch der Pfarrer Kenntnis davon hatten, was denn der Sinn und Zweck dieses Experiments auf dem Planeten Erde sei. Keiner hatte eine Ahnung, worum es ging und worauf das Dasein hinaus zielte. Es gab zwar spärliche Hinweise, aber die waren damals alters- und temperamentbedingt unattraktiv: Leben nach dem Tod, Gott, der Teufel und Darwins Theorie.

Heute leide ich, wenngleich wissender, und obwohl sich an den Bedingungen nichts geändert hat, immer noch unter denselben Vorstellungen. Im Gegensatz zu früher, kann ich mich aber nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass das Experiment in Wahrheit kein Experiment war, sondern das lebendigste Leben selbst vertrat. Kein Buch, kein geistiger Führer, weder Zufall noch Fügung und ich selbst auch nicht, konnten mir bis Dato den tieferen Sinn des Daseins auseinander buchstabieren. Daran konnte auch das Hinzustoßen weiterer Hinweise nichts verschieben: Urknalltheorie, Stringtheorie und Paralleluniversen. Die Folge davon? Man erschöpft sich und verliert zusehends an regenerativen Kräften. Ich nenn es phasische Desillusionierung.

Ich dachte in meiner Ermattung auch schon mal daran, eventuell die Ansprüche an mich und die Welt etwas herunterzuschrauben. Vielleicht möchte sich ja dann wenigstens ein schwaches Weiss am Ende des Tunnels andeuten. Was, wenn man es anderen gleich täte? Eine berufliche Karriere zu seinem geheimen Ziel definierte; Geld- und Machtanhäufung – in bescheidenem Rahmen natürlich; Reisen, die Welt erkunden; schöne Landschaften jagen, an neuen Menschen und andere Kulturen schnuppern? Ja das klang verlockend. Zur Realisierung solch plakativer Verführungen stand ich mir letztlich dann leider nur selber wieder im Weg. Das waren keine Ziele, nichts von einem annähernd nur tiefer gründenden Sinn. Und für Zerstreuungen solcher Art war mir meine Zeit zu schade.

Wenn ich mir letztendlich trotzdem einen Restbestand an Kräften aufsparen konnte, dann liegt das vermutlich an zufälligen Konstellationen des damaligen Doppelblindversuchs. Man hatte mich nämlich in der unmittelbaren Nachbarschaft eines Bestatters zur Welt gebracht. Dieser besondere Mensch musste in mir wesentlich inspirierende Kräfte ausgelöst haben.

Obwohl ich nicht freiwillig ins Licht der Welt hinaustreten wollte, man erzwang das mittels eines Kaiserschnitts, entschloss ich mich, unbewusst natürlich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Man lastete mir das negativ an, warum sonst hatte man sich entschieden, mir einen schmerzhaften Klaps auf meinen Hintern zu platzieren. Alles lässt Menschlein sich dann doch nicht gefallen, also schrie ich auf Teufel komm raus und begann lauthals zu protestieren.

Das Handwerk meines Nachbarn, des Bestatters, war im Gegensatz zu meinem Geburtsakt im Spital ein auf Stille, Verantwortung, Nächstenliebe, Respekt, Ehrfurcht und Gründlichkeit beruhendes Tun. Einmal, zwecks Aussitzen einer Mutprobe unter uns Jungs, liess ich mich am Nachmittag im Bestattungslabor einschließen. Ich hatte in meiner Vorstellung nichts erwartet, außer einer gehörigen Portion Selbstüberwindung und Angst angesichts der stumm da liegenden Leiche. Ich wollte aber alles daransetzen, meine Probe erfolgreich zu überstehen. Es war zwar kühl im Raum und es roch leicht chemisch, aber die Stille, Erwartungslosigkeit und Endzeit Konstellation drangen seltsam beruhigend durch mich hindurch und ich schlief ein.

Erst das laute Zufallen der Tür ins Schloss weckte mich. Der Bestatter beschaute mich eine Weile, nahm dann meine Hand und führte mich vor die Leiche. Er erzählte mir einiges aus dem kürzlich erloschenen Leben dieses verstorbenen Mannes, nannte mir seinen Namen, wusste, dass er drei erwachsene Kinder zurückließ und ein angesehener Vertreter der Gemeinde gewesen sei. Dann schickte mich der Bestatter nach Hause und ermahnte mich, mir einige Gedanken zum Verstorbenen zu machen und an seine Kinder zu denken, denn die seien jetzt sicher sehr traurig. Jeder Mensch, der gegangen sei, hinterlasse bei seinen Hinterbliebenen ein schwarzes Loch.

Moira bescherte mir auch sonst eine ziemlich verrückte Jugend. Beispielsweise, dass sich meine Mutter bei einer sommerlichen Sonntagswanderung einen Sonnenstich zuzog. Dies bewog sie in der folgenden Nacht dazu, in mein Zimmer einzudringen, um mich zu beschützen. Sie schloss dabei die Tür ab und warf den Schlüssel gezielt zum Fenster raus, während sie mir verängstigt erklärte, dass mein Vater uns mit seiner Pistole zu erschießen beabsichtige. Wie und was will man da als eben erst schulpflichtig gewordener Knirps seiner Mutter entgegenhalten? Man hat schließlich das Staunen noch nicht ganz verlernt. In der Frühe des darauffolgenden Tags stiegen wir dann mit der gutnachbarlichen Unterstützung des Bestatters, meines Freund und Helfers und Ersatzvaters, aus dem Fenster meines Zimmers und fanden in der Küche seines Hauses freundliche Aufnahme, bis die Polizei erschien und sich das Ganze als simpler Sonnenstich mit anschliessendem Arztbesuch wieder in nichts auflöste. Das brachte mich dem Bestatter und dem, womit er es beruflich zu tun hatte, nochmals ein gutes Stück näher.

Strengster Katholizismus zählte zu den Grundbedingungen meines damaligen Wohnortes in den tiefen und oft nebelverhangenen Tälern der Urschweiz. Es gab einen Feiertag pro Jahr, an dem stündlich drei Kanonenböller abgefeuert wurden und gruselig wie tollwütige Geister durchs Tal grollten. Das Böllern scheuchte nicht nur Vögel Katzen und Hunde auf, sondern erschreckte und beschäftigte auch mich gründlichst. «Ach Junge», beruhigte mich meine Mutter, «brauchst dich nicht zu fürchten. Man tut das, um der Verstorbenen zu gedenken und sie zu ehren. »

Ich wusste es nicht besser und stellte mir vor, dass man, von Hintergedanken geleitet, versuchte, ebenfalls die Toten mit diesem hausgemachten Lärm aufzuscheuchen und sie ins Leben zurückzuholen. Hätte ich es vermocht, so würde ich sicher festgestellt haben, dass ein heftiger Klaps auf meinen Hintern mich zu diesem Irrschluss bewogen haben mochte. Das behagte mir nun ganz und gar nicht und ich beruhigte mich darüber erst wieder, als ich anlässlich eines eigens arrangierten Friedhof Besuchs feststellen durfte, dass die Gräber allesamt ordentlich von schweren Steinen verschlossen wurden und Moos und Grünspan deren Unversehrtheit bezeugten. Entwarnung also. Ich atmete auf. Es würde als nicht soweit kommen, dass man auf der Strasse plötzlich Herden von Wiederauferstandenen begegnen würde.

Heutzutage sind solch krude Vorstellungen zu meinem Erstaunen wieder top aktuell. Es gibt Fernsehproduktionen und ganze Serien, die davon erzählen, wie lebende Tote sich hemmungslos und ungebremst wellenartig über den Planeten beissend und mordend verbreiten. Diese Untoten wurden in der Regel aber nicht von Lärm aufgeschreckt, sondern sind das Opfer einer Seuche. Verschwören wir uns nicht zu verkrampft darauf, vielleicht sind es ja lediglich die Mutanten unkontrollierter Impfungen. Scherz beiseite.

Die nachhaltigste Erschütterung meines damals noch jungen Lebens bescherte mit der Sankt Nikolaus. Der jährliche Umzug zu seinen Ehren anfangs Dezember war einer der Höhepunkte im Gemeindeleben. Ich hatte den Sommer über irgendwann einmal meinen Mund dem Vater und meinem Bruder gegenüber etwas zu voll genommen, verärgert darüber, dass man mir bei Verfehlungen unablässig damit drohte, der schmutzige Kerl («Schmutzli»), der die bösen Kinder am St. Nikolaustag einsammle, werde sich kommende Weihnacht ganz besonders um mich kümmern wollen. Der Nikolaus und sein blöder Kohlenmann mögen nur kommen, hatte ich verzweifelt geprahlt, sie würden dann schon zu spüren kriegen, was ich Besonderes für sie ausgedacht hätte. Ich würde ihnen mit einem Hammer einfach den Schädel zertrümmern.

Als sich das Jahr dem Ende zuneigte und der Umzug endlich gestartet wurde, stand ich nichtsahnend am Strassenrand und erwartete, begleitet vom rhythmischen Klang von hundert schweren Treicheln in kalter sternenloser Nacht den Vorbeizug des Wagens, auf dem Nikolaus auf seinem goldenen Thron sass und den Menschen freundlich zuwinkte. Als der Wagen auf meiner Höhe anlangte, stoppte der Umzug. Da mein Vater mich geschultert hatte, war an ein Abhauen in letzter Sekunde nicht zu denken. Der Nikolaus stieg von seinem Thron, neigte sich bedächtig zu mir rüber und fragte mich, «wo, mein Junge, hast du nun den Hammer? »

Ich fühlte mich wie vom Blitz getroffen und war zutiefst erschüttert. Gemein und schrecklich peinlich, schoss es mir durch den Kopf, denn alle meine Freunde hatten zugehört. Und selbst meinem Nachbar, dem Bestatter, der Zeuge war, rang diese Episode ein Lächeln ab. Liebend gerne hätte ich meinen Kopf in den Sand gesteckt.

Wie konnte der rote Mann wissen, was sonst niemand außer meinen Eltern kannte. Das grenzte an Hexerei. Und weil ich dafür keine Erklärung fand, verhalf mir das in der Verlängerung meines Lebens dazu, mir einen nicht unbescheidenen Rest an Humanismus und Religiosität zu bewahren. Wenn mein Vater an Geburtstagen diese Geschichte lachend zum Besten gab, rief das in mir gleichwohl die peinlichen Momente wieder in Erinnerung. Aber heute weiss ich, dass der Nikolaus in Wahrheit ein guter Arbeitskollege meines Vaters gewesen war.

Ich war für diese Erfahrung dankbar, denn der Nikolaus hatte getan, was Gott niemals tun würde, er stellte mich persönlich zur Rede. Dieses Erlebnis machte mich einfühlsamer und geduldiger für die Anliegen und Obsessionen meiner Mitmenschen und noch verschlossener dem unnahbaren Gottgeist gegenüber.

Mir ist klar, zum einen ist es nicht besonders originell, das Leben als ein Experiment zu bezeichnen, zum anderen bin ich aber auch nicht der erste, der damit herumspielt. Oberflächlich betrachtet scheint es durchaus so, dass das Leben nicht viel mehr zu bieten hätte, als was Darwin darin sah: Erhaltung der Art durch optimale Anpassung an die Lebensumstände. Aber ehrlich, ist das nicht ein bisschen gar zu mager, zu perspektivlos?

Es ist diese verkürzte Sichtweise, mit der man dem Leben begegnet, die leider alles einengt, ausgraut und Fragen über Fragen lediglich einnivelliert: da geht eine Seuche um, also brauchen wir eine Impfung. Mag ja sein, aber was tut Gott, hat er einen Plan oder schaut er unbeteiligt zu – doppelblind und doch sehend?

Veröffentlicht von Proteus on fire

Freischaffender Feuilletonist

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