
Sirenen sind alles andere als liebliche Wesen. Sie sollten auch nicht mit den verführerischen Meerjungfrauen verwechselt werden. Sirenen sind Todesdämonen – Mistviecher halt. Locken ihre Opfer durch verführerisch schöne Gesänge zu sich, reißen sie dann in die Meerestiefen, wo sie kläglich ersaufen oder durch den starken Wasserdruck verenden. In der griechischen Mythologie gibt es unterschiedliche Angaben, woher sie stammen. Als Vater wird meist der Flussgott, Acheloos, oder der Meeresgott, Phorkys, angegeben, und als Mutter wird von Euripides Gaia, die Erdgöttin, genannt. Überlieferungen zufolge sollen es drei Sirenen gewesen sein. Und je nach Quelle variieren ihre Namen; Himeropa (die sanfte Stimme), Molpe (das Lied), Peisinoe (die Überredende), Thelxiope (die bezaubernde Stimme), Ligeia (die Helltönende) oder Leukosia (die Weisse). Was mich indessen an diesen Geschichten interessiert, ist im vorliegenden Fall ihre Verführungskunst mittels des Gesangs und nicht die Genealogie. Doch distanzieren wir uns von der Antike und kehren ins Jahr 2020 zurück – und ich würde mir mit allem Nachdruck wünschen, dass sie damit aufhören, uns das Lied vom Tod zu singen. Aber gerne, wer hört schon auf mich.
Seit einiger Zeit, wenn ich meinen suchenden Blick durch den verhangenen Alltag schweifen lasse, dünkt mich, dass da draußen aktuell eine große Anzahl Verführter – getrieben asthmatisch – herumirrt. Solcher also, die vermutlich ausnahmslos den Verlockungen verzaubernder Gesänge erlagen und mundtot gemacht wurden. Darum nochmals mein Wunsch, stoppt dieses Singen. Es reicht.
Man erkennt die Mundtoten an ihren zur Zeit besonders farbigen Stoffresten, die sie sich um Mund und Nase gebunden haben. Wie konnten sie dabei bloß ihre Ohren vergessen? Zuweilen ertappt man sie, wie sie uns «Normalos» verängstigt begegnen und sich schüchtern, buckelnd und schleppend an uns vorbeischleichen – schließlich tragen wir keine Masken, weshalb sie sich einreden müssen, dass es gar uns nicht gibt.
Sie ahnen, dass wir es womöglich vorziehen, offen und direkt mit den Menschen zu kommunizieren. Dass es nicht unsere Sache ist, quasi hinter vorgehaltener Hand einander unanständige Dinge zuzuflüstern. Wir sehen zwar aus wie immer, in ihren Augen aber mögen wir Masern zumindest oder gar Pestbeulen an uns tragen. Wer nicht ausschaut und sich zittrig verhält wie sie, stets vor der großen Krankheit auf der Flucht, eingekerkert in Wohnungen oder abgeschottet hinter verriegelten Autotüren, der stellt für sie und ihre kleine Welt eine Gefahr dar.
Bei Lichte betrachtet ist dies jedoch nur dummes Zeug und das Resultat einer Massenverblendung, ausgelöst, ja und hier ist sie die Verbindung zur griechischen Mythologie, durch Zaubersänge, welche ihnen über alle verfügbaren Kanäle der modernen Medienwelt variationslos täglich von neuem eingeträufelt werden. Es ist ihr Lied vom Tod, welches sie hoffen lässt, auf der sicheren Seite der gesellschaftlichen Herausforderung zu stehen.
Ich muss es an dieser Stelle unbedingt anbringen – ist ein unglaublicher Soundtrack. Wer möchte da nicht weich werden und sich frei den Kälteschauern hingeben, die euphorisierend das eigene Rückgrat hinunter graupeln, wenn man uns das Lied vom Tode spielt. Aber sich deswegen gleich Infizieren lassen? Klaro, was weiß ich schon von der Kunst des Gesangs. Ich kenne zwar die Schauer, nicht aber das Verderben, das mit diesem Singen einhergeht. Auch wenn Mundharmonika Charles Bronson keine Sirene ist, Morricones Trauerhymne hingegen möchte wohl nahe an deren Gesangskunst heranreichen; so kann ich es halbwegs verzeihen, wenn einer sich anstecken lässt, doch deswegen gleich sterben? Das muss nicht sein, geht mir zuweit.
Unverzeihlich jedoch, und das steckt halt auch im Gesang der Sirenen, ist der uns zugefügte Verlust an Selbstkontrolle. Wir Infizierten werden augenscheinlich nicht nur überängstlich, schwach und voreingenommen. Der Gesang scheint direkt und ungebremst auf unseren Verstand einzuwirken, schafft Verwirrung und rückt die Dinge dieser Welt in ein schiefes Untergangslicht, als ob die Sonne wie eine vom Wind getriebene Jolle dem Horizont entlang dümpelte, ziellos, irregeleitet und über den Rand der Erde segelnd – als hätte es Columbus nie gegeben.
Nur am Rande vermerkt, ich liebe den Konjunktiv über alles. Er erst gibt uns die Möglichkeit, Dinge zu nennen, die sein könnten oder nicht, ohne sich zwingend festzulegen. Man muss dieser Tage diesbezüglich vorsichtiger sein als sonst. Es wird von vielen nicht so geschätzt, wenn Dinge an- und ausgesprochen werden, die verpönt, tabuisiert oder verboten wurden. Es entstehen dann schnell Dissonanzen und sonstige atmosphärische Störungen, die entzweien und zwischenmenschliche Distanzen schaffen, da wo man sich sonst herzlich begrüsst, umarmt, angeregt miteinander spricht und sich hinterher wieder mit den wärmsten Grüssen gegenseitig entlässt. Vielleicht täte man besser daran, sich zu überlegen, wer und mit welcher Absicht geistige Exklaven künstlich ins Dasein setzt. Solche Exklaven nennt man für gewöhnlich Zensur.
Früher hätte ich naiverweise gesagt, Zensur gebe es nur in sozialistisch-kommunistischen Ländern, nicht aber in Demokratien. Heute beurteile ich die Lage etwas anders: es gibt sie überall, denn Staatsformen sind obsolet geworden und können gewechselt werden wie Kleidungsstücke in der Narrenzeit. Welches Gesicht, welche Gesinnung und welche Uniform man trägt, hängt ganz von den Vorlieben der jeweiligen Machthaber ab. Es gibt immer und überall Menschen, die ein Interesse verfolgen, dass gewisse Dinge nicht ausgesprochen oder ans Tageslicht gezerrt werden.
Und da kommen die Sirenen wieder ins Spiel, welche als Zwischenwesen die Aufgabe ihrer Herren übernehmen, uns unerhörte Dinge ins Ohr zu flüstern. Sie reden in blumigen Metaphern, wählen den Konjunktiv als bevorzugte Ausdrucksweise, um uns seltsame, irreale Dinge einzureden. Und wenn dann nichts wirklich helfen will, uns von ihren Dummheiten zu überzeugen, dann greifen sie zum letzten ihnen verbleibenden Mittel, dem unerhörten Zaubergesang, der uns vollends um das Quäntchen Verstand bringt, dessen wir noch habhaft waren. By the way, ich wüsste da Rat, ihr solltet euch der Masken entledigen und stattdessen zu Oropax-Wattebäuschel überwechseln. Manchmal, und dass muss auch noch nachgetragen werden, ist es nicht die Schönheit, sondern die Lautstärke des Gesangs, die uns Schaden zufügt.