
Ich beurteile die Güte eines Rummel- oder Messeplatzes daran, ob er ein Spiegellabyrinth im Vergnügungsangebot führt oder nicht. Unter diesem Aspekt betrachtet ist unsere Welt schon länger kein besonders vergnüglicher Ort mehr, doch das nur so nebenbei. Spiegellabyrinthe sind für mich etwas Verlockendes. Sie entführen mich aus der Oberflächlichkeit des Betrachtens und lehren mich zwischen Sein und Schein besser zu unterscheiden. Sie stacheln mich in meinem Ehrgeiz an, mir immer einen Weg aus jedwedem Irrgarten zu bahnen. Zu einem wahrhaft metaphysischen Gruseln steigert sich meine Pirsch durch die unzähligen Spiegelbilder aber dann, wenn ich mir bewusst mache, dass ich in solchen Labyrinthen eigentlich immer nur mir selber begegne. Es entsteht dann die Illusion, als ob ich mir meinen Gang durch Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart bahnen würde.
Verfügten wir, um das mal rein spekulativ zu verallgemeinern, über die Möglichkeit, den Zeitpunkt unseres Austritts aus solchen Irrgärten individuell zu wählen, dann wäre es spannend zu verstehen, wer wann und warum an einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens austreten möchte. Vielleicht, so denkt sich eine Person mittleren Alters, gewinne ich ja an zusätzlicher Lebenszeit, wenn ich einen Ausgangspunkt in meiner Jugend wähle. Rein mathematisch möchte dieses Kalkül ja zutreffen, nicht aber unter biologischen Aspekten. Würde ich den Zeitensprung schaffen und kehrte tatsächlich als Jugendlicher ins Dasein zurück, dann geschähe dies mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Es fehlte die Erinnerung an das „schon einmal an diesem Punkt gestanden zu haben“. Es fehlten somit die unzähligen Erfahrungen, die man über die Jahre hinweg in sich angesammelt hatte. Es würde nichts gewonnen; ohne Erinnerung gibt es keine zusätzliche Lebenszeit. Und ohne das Bewusstseins-Archiv an Lebenserfahrungen und daraus gewonnen Fähigkeiten wäre man nicht einmal in der Lage, begangene Fehler für die eigene Person und Zukunft passend zu korrigieren – ganz davon abgesehen, dass man damit womöglich ein Zeitparadoxon schaffen würde.
Ähnlich erginge es jenem Zeitreisenden, der seinen Ausgangspunkt in die Zukunft gesetzt hätte. Er tat es vielleicht, um zu erfahren, was dereinst aus ihm werden möchte und wie sich sein zukünftiges Leben gestaltete. Sein Wunsch ginge zwar in Erfüllung, was ihm dabei aber fehlte, wäre das Wissen um den Weg und die Kämpfe, die er in der Vergangenheit bestreiten musste, um dahin zu gelangen. Man sieht, worauf es hinausläuft: egal ob man sich in die Vergangenheit oder in die Zukunft flüchtet, man verliert einen Teil seines persönlichen Wesens und man landet immer wieder in einem speziellen Modus von Gegenwart.
Stellt man sich der Frage zeitlich nach dem Zuvor oder dem Danach, dann kann die Antwort nur lauten: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, denn andere Wasser strömen nach.“ Dies hat uns ein kluger Grieche, Heraklit, überliefert. Ob das übertragen auch auf die Pandemie Situation zutrifft? Denn viele Rufer aus der Wüste bedeuten uns, dass vor Corona nicht nach Corona sein werde?
Ist mir schon klar, Menschen die uns vor der Zeit nach Corona warnen, meinen das natürlich recht alltagsnah, wirtschaftlich, politisch und sozial, was das Ganze dann auch so bedrohlich macht. Sie warnen vor der weltweiten Verschuldung der Staaten, sie sehen Pleiten, Kündigungen und Massenentlassungen und sie befürchten, überall nur noch Armut und Darben anzutreffen. Wenn das die einzigen Perspektiven wären, die uns in diesen seltsamen Zeiten blieben, dann würde ich mehr als nur meine Lust an Labyrinthen verlieren.
Entscheidend für den Aufenthalt in einem Labyrinth ist doch der Genuss und das neugierige, uns immer wieder überraschende Erleben der vielen Fraktale von sich selber. Man kann dadurch die Freude an sich selbst zurückgewinnen. Indem man sich von allen Seiten und aus allen Winkeln begegnet, findet man sich in einem größeren Verständnisrahmen wieder und womöglich spürt man dann sogar, wer man wirklich ist, falls das wichtig sein sollte.
Da gibt es die vielen Wunschbilder von sich, denen man zeitweilig frönt; da schaut man die Fratzen, denen man lieber nicht begegnen möchte und man sieht die Spuren des Lebens, die sich in unseren Körper eingeschrieben haben. Vor allem aber lernt man den Unterschied zwischen dem Bild von sich und der eigenen Person. Erst aus der Begegnung von beiden entwickelt man das Gefühl und das Bewusstsein um sich selbst. Darum sollte man sich nie vor dem Durchlauf durch ein Labyrinth fürchten. Man bleibt wer man ist, davor währenddessen und danach, denn ein Labyrinth ist statisch und nichts Fließendes.
Corona mag gemacht oder Schicksal sein, uns wird es nur verändern, wenn wir das zulassen. Man sollte die Angst unterwegs liegen lassen und mit dem offenen Blick für die Zukunft losmarschieren.