
Beim Blick von meinem Arbeitsplatz aus sah ich in den letzten Tagen auf dem Hügel oben, direkt unter dem wechselnden Witterungen ausgesetzten Himmel, eine große Weideumzäunung, auf der sich eine Schafherde aufhielt. Bei Gehegen für Schafe setzen sich in meinem Kopf regelmäßig seltsame Bilder und Gedankengänge frei: vom Goldenen Vlies, über das Opferlamm (symbolisch dann auch die Alttestamentliche Geschichte um Kain und Abel), bis hin zum Agnus Dei, in der Bibel das Synonym für Jesus. Na ja, Schafe sind zwar gefällige Tiere, aber ich gestehe, ich mag sie nicht besonders. Erst recht dann nicht, wenn sie für mein Dafürhalten religiös überhöht werden. Aber auch deswegen, weil ihr Herdentrieb dem von uns Menschen oft beispielhaft gleichgesetzt wird.
Was mir sehr gefällt an diesen Tieren, ist ihr ausgeglichenes Wesen. Egal ob die Sonne vom wolkenlosen Himmel herunter brennt, ob die Landschaft an Farbkontrast verliert, weil der Himmel zu graut, oder ob es blitzt und donnert, die geduldigen, etwas einfältig anmutenden Tiere lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, und suchen scheu stets die Nähe der anderen Schafe und formieren sich in die Richtung des Leittieres. Das ideale Herdentier, dachte ich, weder revolutionär veranlagt, noch widerspenstig, wohl etwas stur, dabei aber immer gefügig und gleichsam grasend nach dem Taktstock der Herde.
Wohl aber dürfte man als Schafhalter gut beraten sein, ein ausbruchssicheres Gehege zu bauen, da diese Tiere in ihrem blinden Vertrauen schnell einmal in ihr Verderben rennen könnten. Ohne Aufpasser neigen sie dazu, sich zu verirren und folgen dann ängstlich und irgendwie närrisch dem nächst vorderen Tier, auch dann und blind, wenn der Weg über eine Klippe in den Abgrund führen würde.
Wir Menschen – jetzt kommt’s und ich hasse es – sind wie Schafe, Herdentiere, stets in Abstimmung mit den uns umgebenden Mitmenschen, bemüht darum, nicht aufzufallen oder aus der Reihe zu tanzen. Angeblich soll es reichen, wenn fünf Prozent von uns in eine bestimmte Richtung laufen, damit alle anderen ihnen folgen. Das ist erstaunlich – aber wissenschaftlich geprüft. Nachdenken, kritisches Abwägen, dialektische Entscheidungsfindung sind zwar Hauptwörter und werden in jedem Sinn selbstbewusst grossgeschrieben. Doch wie steht es damit in der Praxis? Da sind sie vernachlässigbar klein und meist sogar inexistent. Propagandisten, Manipulatoren und Volksführer, wie sich jeder billig selber ausmalen kann, haben bei solcher Veranlagung der Mehrheit von uns Menschen ein leichtes Spiel. In dieser Verhaltensart steckt, neidlos zugestanden, sehr viel Potential, Menschengruppen zu wenig erbaulichen Dingen zu missbrauchen und zu verführen.
Wenn unsere Politiker in der Öffentlichkeit Masken tragen, dann tun wir es ihnen vorbehaltslos nach. Das ist noch harmlos. Wenn im Fernsehen Verhalten und Meinungen von bestimmten Menschen als Verschwörungsgut taxiert wird, richten wir uns gefügig nach den Gutmenschen und sind den andern gegenüber misstrauisch und feindlich. Das führt schnell zu gesellschaftlichen Spannungen. So spaltet man Gesellschaftsgruppen. Analog dazu treibt man auch Keile zwischen Nationen, Religionsgemeinschaften und Menschen verschiedener Hautfarbe. Und letztlich zettelt man so auch Kriege an. Man versteht jetzt, warum ich an diesen lieben Tieren nur wenig Freude bekunde.
Ich schüttle die schlechten Gedanken von mir und konzentriere mich schnell wieder auf meine Arbeit, die andern machen es mir vor.